Prädation

Standpunkt der Schweizerischen Vogelwarte Sempach

Prädation ist das Töten einer Beute durch einen Beutegreifer zwecks Nahrungserwerb. Prädation ist Grundlage aller Nahrungsketten und gehört damit zu den wichtigen Faktoren, die die räumliche und zeitliche Dynamik von Populationen (Räuber und Beute) beeinflussen. Natürliche Räuber-Beute-Systeme bedürfen keines «Managements».

Konflikte um Auswirkungen von Prädation können in zwei Bereichen entstehen:

  • Konflikte im Rahmen des Schutzes gefährdeter Arten
  • Konflikte aufgrund menschlicher Nutzungsinteressen

Aufgrund der in diesem Standpunkt erörterten Argumente stellt sich die Schweizerische Vogelwarte wie folgt zu Eingriffen in Räuber-Beute-Beziehungen:

  • Eine Prädatorenkontrolle zum Schutz ungefährdeter, verbreiteter Beutetierarten ist nicht gerechtfertigt, insbesondere nicht, wenn der einzige Beweggrund für eine solche Massnahme die Konkurrenz des Prädators mit menschlichen Nutzungsinteressen ist.
  • Zur Förderung gefährdeter Arten müssen in erster Linie deren Lebensräume verbessert und vergrössert werden. Im Rahmen von Artenförderungsprogrammen kann es aber sinnvoll sein, zusätzliche Massnahmen gegen eine starke Prädation zu prüfen. Der Entscheidungsbaum gibt dazu eine strukturierte Evaluationshilfe.
  • Entscheide für oder gegen allfällige Eingriffe sollen wissenschaftlich begründet und unter Einbezug des ganzen ökologischen Gefüges gefällt werden. Wird ein Eingriff befürwortet, sind zuerst nicht letale Massnahmen auszuschöpfen, bevor letale Massnahmen gegen Prädatoren angewendet werden.
  • Eingriffe müssen zeitlich und örtlich befristet, gesetzeskonform und behördlich bewilligt sein. Sie sollen stets Teil eines umfassenden Massnahmenpakets zugunsten gefährdeter Arten sein, und die Auswirkungen der Eingriffe müssen durch eine wissenschaftliche Kontrolle überwacht werden.

Ausgangslage & Zielsetzung

«Fressen und gefressen werden» sind natürliche Vorgänge. Prädation (= Töten einer Beute durch einen Beutegreifer zwecks Nahrungserwerb) ist die Grundlage für Nahrungsketten im ökologischen Gefüge. Alle Wildtiere sind in Nahrungsketten eingebunden. Der Fortpflanzungserfolg, die Sterblichkeit und die Zu- oder Abwanderung bestimmen, ob ihr Bestand zu- oder abnimmt. Diese Vorgänge werden durch die Lebensraumqualität und -grösse, durch Klima und Wetter sowie durch Krankheiten und Parasiten beeinflusst. Ein weiterer Einflussfaktor ist die Prädation.

In den letzten Jahren entstanden in der Schweiz regelmässig Konfliktsituationen mit Prädatoren. Immer wieder wurden Eingriffe in Prädatorenpopulationen als mögliche Lösung der Konflikte vorgeschlagen. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Prädation von Schafen durch Luchs und Wolf. Oft rücken aber auch Vogelarten entweder als Prädatoren oder als Beutetiere in den Brennpunkt der Diskussion. Konfliktsituationen werden je nach Blickwinkel unterschiedlich beurteilt und verschiedene Lösungen bevorzugt. Die theoretischen Grundlagen der Prädation sind relativ gut bekannt, so dass Lösungsansätze auf eine sachliche Grundlage gestellt werden könnten. Dieser Standpunkt soll in Konfliktsituationen als Hilfe für kohärente Entscheidungen in Bezug auf allfällige Eingriffe in Prädatorenpopulationen dienen und berücksichtigt die Resultate wissenschaftlicher Untersuchungen und
bisherige Erfahrungen mit Eingriffen. Gesellschaftliche und politische Faktoren werden hier nicht berücksichtigt, können für Entscheidungsträger aber wichtig sein.

Konflikte rund um die Prädation können in zwei Bereichen entstehen:

  1. Konflikte im Zusammenhang mit Artenschutz. Prädatoren erbeuten Zielarten des Natur- und Artenschutzes. Beispiele: Fuchs/Bodenbrüter, Fischfresser/gefährdete Fischarten, Grossmöwen/Seeschwalben.
  2. Konflikte aufgrund menschlicher Nutzungsinteressen (Landwirtschaft, Jagd, Fischerei, Freizeit). Prädatoren erbeuten Nutztiere oder bejagte bzw. befischte Wildtiere. Beispiele: Kormoran/Edelfische, Wanderfalke/Brief- und Rassetauben, Habicht/Nutzgeflügel.

Prädation: Ökologischer Hintergrund

Prädation ist ein natürlicher Mechanismus

Die Prädation ist einer von vielen Faktoren, die den Bestand einer Beutetierart beeinflussen. Die Beziehungen zwischen Prädatoren und Beutetieren hängen von den Umweltbedingungen in den jeweiligen Lebensräumen ab und sind oft komplex: Einerseits nutzen viele Prädatoren ein breites Nahrungsspektrum verschiedener Beutetiere, andererseits werden Beutetierarten von unterschiedlichen Prädatoren gefressen. Die meisten Prädatoren optimieren ihre Nahrungssuche und konzentrieren sich in der Regel auf die am leichtesten erreichbare oder ergiebigste Beute. Im konkreten Fall ist die Wirkung eines Prädators auf eine Beutetierart meist schwierig zu verstehen.

Das Beziehungsgefüge zwischen Prädator und Beute ist nicht stabil

Wenn sich Umweltbedingungen ändern, kann sich die Beziehung zwischen Prädator und Beutetierart verändern. Änderungen in den Lebensbedingungen einer Art können aber auch zu gewichtigen Veränderungen in den Nahrungsketten ganzer Ökosysteme führen. Bestandsveränderungen von Prädator- oder Beutetierarten wirken sich dabei ebenfalls auf andere ökologische Beziehungen und Arten aus. In vielen Fällen spielt der Mensch eine wichtige Rolle bei diesen Veränderungen, indem er den Lebensraum und damit das Nahrungsangebot und/oder die Lebensbedingungen für Prädator und Beute beeinflusst. Ausserdem werden die Bestände von Prädatoren und Beutetieren durch Jagd und Fischerei sowie durch Bewirtschaftung, Verkehr und weitere menschliche Aktivitäten beeinflusst. So kann beispielsweise die Eliminierung von Spitzenprädatoren die Bestände kleinerer Prädatoren begünstigen, was negative Auswirkungen auf deren Beutetiere haben kann («mesopredator release»; z.B. Crooks & Soulé 1999). Auch Krankheiten wie Tollwut oder Räude können die Bestände von Prädatoren dezimieren und damit die Beziehung zwischen Prädator und Beute verändern. Wenn der Mensch ungewollt leicht erreichbare Nahrung zur Verfügung stellt, kann dies Auswirkungen auf das Verhalten und die Bestände von Prädatoren und  Beutetieren haben. Beispiele sind Besatzmassnahmen aus fischereilichen Gründen und die ungeschützte Freilandhaltung von Geflügel. Setzt der Mensch gebietsfremde Prädatoren (z.B. Hauskatzen) in Ökosystemen frei, werden die natürlichen Nahrungsnetze ebenfalls beeinflusst.

Räuber-Beute-Beziehungen sind oft auch ohne Umweltveränderungen nicht stabil (d.h. intrinsisch instabil), was in den berühmten Räuber-Beute-Zyklen zum Ausdruck kommt.

Kleine, isolierte Beutetierbestände sind besonders stark betroffen

Die Bestände von Prädatoren und Beutetieren können aus verschiedenen Gründen schwanken, was zu starken Veränderungen in den Populationen einer spezifischen Beutetierart führen kann. Kritische Entwicklungen können sich ergeben, wenn kleine, isolierte Beutetierpopulationen von einer starken Zunahme der Prädation betroffen sind. Wenn gleichzeitig auch die Lebensbedingungen suboptimal sind, kann dies das Überleben eines Bestands gefährden. Die Beutetierart muss dabei nicht unbedingt eine anteilsmässig hohe Bedeutung im Beutespektrum des Prädators haben. Bereits der Verlust weniger Individuen kann für die Beutetierpopulation kritisch sein. Die Prädation ist in diesem Fall nicht der unmittelbare Grund für die Gefährdung einer Beutetierart. Einerseits ist allein die Anwesenheit eines Prädators und die Tatsache, dass eine Tierart vom Prädator gefressen wird, nicht  zwingend die Ursache der Gefährdung dieser Art. Andererseits kann der Prädator eine Beutetierart im sogenannten «predator pit» halten: Mit steigender Beutetierdichte (von tiefer zu mittlerer Dichte) nimmt der Effekt des Prädators auf die Beuteart zu (zunehmende Sterblichkeit), wodurch die Bestandsgrösse wieder auf ein tiefes Niveau zurück geht (Messier 1994). Bei kleinem Beutetierbestand können Prädatoren diesen langfristig tief halten und sogar zum Aussterben bringen, während eine grosse Beutetierpopulation eine weit stärkere Prädation problemlos verkraftet.

Neozoen als Prädatoren

Besonders gravierende Folgen kann die Einführung oder Einwanderung gebietsfremder Prädatoren haben, weil die einheimischen Beutetiere nicht an die neuartige Bedrohung angepasst sind. Durch die Einführung von räuberischen Säugetieren in Australien, Neuseeland und auf kleinen Meeresinseln wurden zahlreiche dort heimische Arten bedroht oder gar ausgerottet. In naher Zukunft könnte in der Schweiz auch die Einwanderung von  Neozoen wie beispielsweise des Waschbärs oder des Marderhundes ernsthafte, neue Probleme für ohnehin gefährdete Beutetierarten schaffen.

Hingegen sind natürlich einwandernde, europäische Prädatoren (autochthone Arten, z.B. Bär, Wolf) gleich zu behandeln wie seit langem ansässige Prädatoren, weil sie zur europäischen Fauna in einem dynamischen System gehören.

Wirkung von Massnahmen gegen Prädatoren zum Schutz gefährdeter Arten

Die Prädatorenkontrolle beabsichtigt eine gezielte Bestandsreduktion des Prädators zur Minderung der Sterblichkeit der Beutetierart. Sie kann als kurzfristige, lokale Artenschutzmassnahme eine positive Wirkung auf den Fortpflanzungserfolg von gefährdeten Arten haben (Gibbons et al. 2007). In einigen Fällen wurden auch Bestandszunahmen von Beutetierarten dokumentiert (Smith et al. 2010). Eine langfristige Wirkung auf die Bestandsentwicklung wurde aber selten nachgewiesen (Côté & Sutherland 1997; Fletcher et al. 2010). Im Zusammenhang mit der Entscheidung über allfällige Eingriffe gegen Prädatoren weist die aktuelle wissenschaftliche Literatur zu Prädator/Beute-Beziehungen auf folgende Punkte hin:

  • Eine Verminderung oder Eliminierung der Prädatorpopulation führt nicht unbedingt auch zur Erholung der Bestände einer Beutetierart (Langgemach & Bellebaum 2005).
  • Der Anteil gefressener Beute-Individuen (= Prädationsrate) weist insbesondere bei gefährdeten Beutetierarten eine grosse Variation zwischen den untersuchten Gebieten und Jahren auf. Dies ist vor allem auf räumliche und zeitliche Unterschiede bezüglich Habitatqualität und Umweltbedingungen zurückzuführen (Teunissen et al. 2005).
  • Lebensraumverbesserungen zugunsten einer gefährdeten Beutetierart können sich sowohl auf diese Art wie auch auf deren Prädatoren positiv auswirken. Solche Massnahmen können beispielsweise andere Beutetierarten wie Mäuse fördern und dadurch indirekt auch das Nahrungsangebot von Fuchs und anderen Prädatoren erhöhen. Bessere Deckung oder mehr Jagdwarten können auch zu höheren Prädationsraten führen. Ob sich eine Veränderung der Prädationsrate durch Lebensraumverbesserungen auf die Entwicklung der Bestände von gefährdeten Arten auswirkt, ist aber kaum untersucht (Langgemach & Bellebaum 2005).
  • Prädatoren beeinflussen nicht nur die Sterblichkeit der Beute. Allein schon ihre Anwesenheit kann zu einer veränderten Ressourcennutzung, zu einer veränderten räumlichen Verteilung oder zu einer erhöhten Wachsamkeit der Beutetiere führen. Solche Effekte sind für die Populationsentwicklung von Beutetierarten allerdings nur dann bedeutungsvoll, wenn sie sich auf die Ansiedlung und/oder auf populationsdynamische Schlüsselgrössen wie Überlebensrate, Fekundität und Rekrutierung auswirken (z.B. Creel et al. 2005; Zanette et al. 2011).
  • Die kurzfristige Reduktion von Prädatoren durch jagdliche Massnahmen ist vergleichsweise einfach durchführbar, während die langfristige (nachhaltige)Reduktion in der Regel schwierig und zeitaufwändig ist. Lücken in einer Population können in kurzer Zeit durch Zuwanderung und durch erhöhte Fortpflanzung wieder gefüllt werden, was sowohl bei kurz- als auch langfristigen Massnahmen zutrifft. Zur nachhaltigen Wirkung muss deshalb ein hoher Jagddruck über lange Zeit aufrechterhalten werden (z.B. Baker et al. 2006; Rushton et al 2006). Ob Einzelabschüsse zum temporären Schutz von gefährdeten Beutetierarten beitragen, ist unklar.

Die Prädatorenkontrolle aus der Sicht der Schweizerischen Vogelwarte Sempach

Eine Prädatorenkontrolle umfasst die gezielte Durchführung von Massnahmen zur Reduktion oder Einschränkung von Prädatoren, um Beutetiere zu schützen. Eingriffe gegen Prädatoren sollen immer Teil eines durchdachten Massnahmenpakets zugunsten gefährdeter Arten sein und mit einer Erfolgskontrolle zur Überprüfung der zeitlich beschränkten Eingriffe ergänzt werden. Nicht-tödliche Massnahmen, wie beispielsweise Einzäunung, Vergrämung, akustische Abschreckung, etc. sind vorrangig durchzuführen; erst wenn sich diese als unwirksam erweisen, soll die Elimination von Prädatoren ins Auge gefasst werden. Die ordentliche Jagd kann in Konfliktsituationen mit  Prädatoren deren Dichte in der Regel grossflächig nicht wesentlich reduzieren. Bei Entscheiden für oder gegen Prädatorenkontrolle sollen die beiden Bereiche «Konflikte im Zusammenhang mit Artenschutz» und «Konflikte mit menschlichen Nutzungsinteressen» gesondert behandelt werden:

Konflikte mit menschlichen Interessen: keine Prädatorenkontrolle
Eine Prädatorenkontrolle zum Schutz ungefährdeter, verbreiteter und häufiger Beutetierarten ist nach Auffassung der Schweizerischen Vogelwarte Sempach nicht zu rechtfertigen. Dies gilt insbesondere, wenn als einziger Grund für eine solche Massnahme die Konkurrenz des Prädators mit menschlichen Interessen ins Feld geführt wird. Zum Schutz von Nutztieren befürwortet die Schweizerische Vogelwarte Sempach wo immer möglich nicht-tödliche Massnahmen, wie beispielsweise sichere Einzäunungen, Vergrämung und akustische Abschreckung.

Konflikte im Zusammenhang mit Artenschutz: Prädatorenkontrolle bestenfalls nach eingehender Prüfung
Zur Förderung gefährdeter Arten müssen in erster Linie die Lebensräume qualitativ verbessert und vergrössert sowie weitere Gefährdungen durch den Menschen beseitigt werden. Im Rahmen von Artenförderungsprogrammen
zugunsten gefährdeter Arten kann es aber sinnvoll sein, zusätzlich Massnahmen gegen eine starke Prädation zu prüfen. Dabei sind folgende Punkte zu beachten:

  • Die letale Prädatorenkontrolle ist nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn der Prädator selbst keine gefährdete Art ist und wenn er nachgewiesene, negative Auswirkungen auf die Populationsentwicklung einer gefährdeten Beutetierart hat. Auch dann befürwortet die Schweizerische Vogelwarte Sempach höchstens eine zeitlich und örtlich befristete Prädatorenkontrolle, um die Beutetierpopulation aus einem allfälligen «predator pit» (durch Prädatoren tief gehaltene Beutetierpopulation) zu befreien. Nur aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen empfohlene/sinnvolle und von den zuständigen Behörden bewilligte, gesetzeskonforme Eingriffe sind zu unterstützen.
  • Eine Erfolgskontrolle zur Überprüfung der zeitlich beschränkten Eingriffe ergänzt die Massnahmen gegen Prädatoren. Ein Monitoring der Bestände der gefährdeten Art sowie der Prädatorart soll die langfristige Entwicklung der beiden Arten überwachen.