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News - Hintergrund

Nackte Zahlen helfen nicht weiter

April 2023

Die Frage «Was ist die grösste Gefahr für Vögel in der Schweiz?» wird immer wieder gestellt. Oft wird bei der Beantwortung dieser Frage mit der Anzahl getöteter Vögel argumentiert. Doch damit lässt sich die Frage nicht beantworten.

Die grösste Gefahr für Vögel ist die Lebensraumzerstörung, die keine direkten Todesopfer zur Folge hat, es den Vögeln aber unmöglich macht, sich anzusiedeln und zu brüten. Am dringendsten müssen daher Vogelschutzmassnahmen im Kulturland und in Feuchtbiotopen ergriffen werden, wo bereits die Hälfte bzw. rund zwei Drittel der Brutvogelarten wegen des Lebensraumverlusts als gefährdet gelten. Auch alle weiteren Gefährdungsursachen für Vögel, ob Glas, Katzen, Störungen, Verkehr, Freileitungen, Windenergieanlagen oder andere, müssen gleichzeitig minimiert werden, unabhängig von der Anzahl getöteter Vögel.

Selbst wenn sie existieren, sagen die absoluten Zahlen von getöteten Vögeln nicht zwingend etwas über die Relevanz einer Gefahr aus. Erstens kann eine Gefahr gravierend sein, wenn bedrohte Arten stark betroffen sind, auch wenn insgesamt nur wenige Vögel getötet werden. Von einer vermeintlich geringen Anzahl Opfer kann deshalb noch nicht auf die Relevanz einer Gefahr für eine bestimmte Art geschlossen werden. Zweitens sind längst nicht für alle Todesursachen Zahlen getöteter Vögel in ausreichendem Mass verfügbar, um gute Hochrechnungen zu ermöglichen. Indirekte Hinweise, etwa durch Bestandsrückg.nge, genügen aber, dass Massnahmen gegen eine Todesursache ergriffen werden sollten. Drittens muss nicht jede Gefahr einen toten Vogel zur Folge haben. Beispielsweise können Störungen durch Freizeitaktivitäten in bisher ruhigen Gebieten für Vögel fatal sein. Ein Vogel stirbt kaum direkt an Störungen, sie können sich aber langfristig auf den Gesundheitszustand oder den Bruterfolg auswirken und ansonsten geeignete Lebensräume unbewohnbar machen.

Das Beispiel der Windenergieanlagen verdeutlich, wie komplex die Diskussion um eine einzige Gefährdungsursache sein kann. Windenergieanlagen werden oft fernab von Siedlungen gebaut, um uns Menschen wenig zu beeinträchtigen. Dort aber verursachen sie Lebensraumverluste, weil gewisse Vögel etwa vertikale Strukturen oder den Schattenwurf der Rotoren meiden. Hinzu kommen neue Strassen, Leitungen und ähnliche Infrastrukturen zur Erschliessung eines Windparks, welche die letzten Rückzugsr.ume gefährdeter Arten weiter zerschneiden. Durch die verbesserte Zugänglichkeit im Zuge der Installation kommen häufig zusätzliche Beeinträchtigungen hinzu, etwa durch eine intensivere Landnutzung und vermehrten Störungen durch Freizeitaktivitäten.

Die Diskussion beschränkt sich bei diesem Thema aber meist auf Kollisionsopfer. Abgesehen von wenigen Studien fehlen aussagekräftige Wirkungskontrollen an den bestehenden Windenergieanlagen in der Schweiz aber völlig. Die Vogelwarte untersuchte zwischen Februar und November 2015 im Windpark bei Le Peuchapatte im Jura, wie viele Zugvögel an Windenergieanlagen verunfallen. Neben systematischer Schlagopfersuche wurde mittels Radar auch die Vogelzugintensität gemessen. Im Mittel kollidierten dort pro Jahr und Windenergieanlage 20,7 Vögel. Mit dieser Zahl werden immer wieder einfache Rechenspiele durchgeführt, die nicht statthaft sind. Insbesondere dürfen grosse Vogelarten, die sich nur langsam fortpflanzen, wie Greifvögel, nicht ausser Acht gelassen werden. Ihr Bestand kann selbst bei wenigen Opfern pro Jahr zurückgehen. Zudem ist der Zusammenhang zwischen Zugintensität und der Anzahl Schlagopfer komplex und die Übertragbarkeit der Zahlen auf andere Naturräume ist nicht zulässig. So konnte ein Mitarbeiter der Vogelwarte im Frühling 2021 zufällig in einem Windpark auf einem Alpenpass unter einer einzigen, kritisch platzierten Windkraftanlage zahlreiche tote Insekten und 69 Vogelkadaver finden, darunter auch gefährdete und potenziell gefährdete Arten wie Fitis, Neuntöter und Schafstelze. Die Zahl dieses Einzelereignisses darf aber aus den oben genannten Gründen genauso wenig für simple Rechenspiele genutzt werden.