© Marcel Burkhardt
Publikationen
Knaus, P., C. Müller, T. Sattler, H. Schmid, N. Strebel & B. Volet (2019)
Zustand der Vogelwelt in der Schweiz. Bericht 2019.
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Schweizerische Vogelwarte Sempach
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Zusammenfassung
Es ist Mitte Mai, 5 Uhr morgens. Ich stehe in einem normalen Laubmischwald im Schweizer Mittelland und lausche dem überschwänglichen Vogelgezwitscher. Die singenden Männchen von ganz kommunen Arten posaunen lauthals ihre Strophen heraus, als herrsche ein Gesangswettbewerb. In der angrenzenden frisch geschnittenen Wiese sind ein Fuchs, ein Rotmilan und mehrere Rabenkrähen eifrig auf Nahrungssuche. Genau in diesem Waldstück verbrachte ich vor über 30 Jahren unzählige Stunden. Mit meinen zwei Schulfreunden suchten wir nach Vogelnestern und verglichen die Eier und Jungvögel mit den Fotos im Vogelführer. Frühmorgens legten wir uns am Waldrand auf die Lauer und erfreuten uns an den entdeckten Feldhasen und Rehen. Während die Finken, Drosseln und Meisen weiter um die Wette singen, versuche ich mich zu erinnern, welche Vogelarten heute Morgen gegenüber damals nicht mehr zu hören sind. Ich erinnere mich, wie ich genau an dieser Stelle damals den ersten Waldlaubsänger singen hörte. Er war ein regelmässiger Sänger in diesem Laubwald. Ebenso der Trauerschnäpper. Am Waldrand war der Feldhase nicht wegzudenken. Alle drei Arten sind hier inzwischen verschwunden.
Haben Sie auch schon solche Vergleiche gemacht? Wie schnell gewöhnt man sich an die veränderten Lebensräume und ihre Bewohner. Diese Prozesse laufen schleichend ab. Nur die systematische Erhebung von Brutvögeln über viele Jahre in «ganz gewöhnlichen » Lebensräumen mit «ganz gewöhnlichen» Vogelarten zeigt auf, wie sich die Schweiz und ihre Avifauna verändern. Genau dazu wurde vor 20 Jahren in weiser Voraussicht für die Bedeutung solcher Daten das «Monitoring Häufige Brutvögel » (MHB) ins Leben gerufen. Mittlerweile liegen wertvolle Datenreihen von 267 Kilometerquadraten vor, welche die Entwicklung von Verbreitung und Bestand häufiger Brutvogelarten dokumentieren. Eine grossartige Leistung!
Als Leiter der Naturschutz-, Jagd- und Fischereibehörde des Kantons St. Gallen war ich schon oft froh, dass ich auf ornithologische Daten der Vogelwarte, wie jene des MHB, zurückgreifen konnte. Nicht nur bei der Beurteilung von umweltrelevanten Bauvorhaben wie Windkraftanlagen oder Richtplananpassungen. Im Rahmen der Erstellung der St. Galler Biodiversitätsstrategie haben wir zuerst eine umfassende Situationsanalyse über die Biodiversität im Kanton verfasst, um anschliessend griffige Massnahmen zu definieren. Die Brutvogeldaten zählten auch hier zu den verlässlichsten und qualitativ hochwertigsten Daten, die abrufbereit vorhanden waren.
Ich wünsche mir, dass die Resultate unzähliger begeisterter Kartiererinnen und Kartierer noch vermehrt zum Erhalt der heimischen Biodiversität beitragen können. Gerne stehe ich auch am nächsten Sonntag wieder um 4.30 Uhr auf, um dazu «mein» MHB-Quadrat zu kartieren! Unserer Vogelwelt zuliebe.
Dr. Dominik Thiel, Leiter des Amts für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St. Gallen und Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Vogelwarte