© Marcel Burkhardt
Publikationen
Knaus, P., T. Sattler, H. Schmid, N. Strebel & B. Volet (2022)
Zustand der Vogelwelt in der Schweiz. Bericht 2022.
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Schweizerische Vogelwarte Sempach
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Zusammenfassung
Als ich mich in meiner Jugend für die
Vogelkunde zu interessieren begann,
war der Grünfink «überall» zu finden,
Feldlerche, Baumpieper und Waldlaubsänger
kamen noch relativ verbreitet
vor, während der Mittelspecht selten
war. Wer sich heute mit der Vogelwelt
zu beschäftigen beginnt, wird die
aktuelle Situation dieser Arten anders
wahrnehmen. Ältere und jüngere
Vogelbegeisterte weisen unterschiedliche
Bezugspunkte oder «baselines»
bezüglich Verbreitung und Häufigkeit
von Vögeln auf, je nachdem wann sie
sich mit der Vogelwelt auseinander
zu setzen begannen. Aufgrund dieser
«shifting baselines» nehmen wir Veränderungen
über die Zeit unterschiedlich
wahr und beurteilen diese je
nach unseren Erfahrungswerten auch
verschieden.
Um nicht solchen subjektiven Einschätzungen
ausgeliefert zu sein,
braucht es langfristig erhobene Datenreihen.
Genau solche liefern die verschiedenen
Monitoringprojekte, welche
die Schweizerische Vogelwarte in enger
Zusammenarbeit mit über 2000 ehrenamtlichen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
seit den 1960er-Jahren durchführt.
Nur dank dieser auf Kontinuität
ausgerichteten Monitoringprojekte
wissen wir, dass sich der Bestand des
Grünfinks unterhalb von 1000 m in
den letzten zehn Jahre beinahe halbiert
hat, während der Mittelspecht derzeit
ein seit Beginn der systematischen Erfassungen
beispielloses Hoch durchläuft.
Dass Monitoringprogramme solche
Erkenntnisse liefern, wird «erwartet».
Wie bei anderen Langzeitstudien liegt
ein weiterer Wert von langfristigen
Überwachungsprogrammen aber auch
darin, dass sie Erkenntnisse liefern
können, die ursprünglich nicht im Fokus
lagen. Ein schönes Beispiel dafür sind
die Veränderungen in den örtlichen
Gesangskulissen über die Zeit. Dank
der langfristigen Monitoringprojekte
liessen sich die an verschiedenen
Orten vorkommenden Arten und so
auch die dortigen «Gesangswelten»
(re-)konstruieren. Demnach sind die
Frühlinge in Europa und Nordamerika
seit 1996 bezüglich Vogelgesang
leiser und weniger abwechslungsreich
geworden.
Die Verknüpfung von Daten der
Vogelmonitoringprogramme mit jenen
aus anderen langfristigen Umweltbeobachtungsprogrammen
kann
helfen, Bestandsveränderungen besser
zu verstehen. Das hier bestehende
grosse Potenzial lässt sich heute dank
der inzwischen langjährigen Datenreihen
und der grossen Fortschritte in
der statistischen Analyse, zu denen
auch die Monitoringdaten der Vogelwarte
beitragen haben, ausschöpfen,
beispielsweise im Zusammenhang mit
klimatischen Veränderungen.
Für den Wert von Monitoringprogrammen
ist die Kontinuität der
Datenerfassung entscheidend. Gleichzeitig
bedarf es aber auch laufend Ergänzungen
bei den überwachten Arten,
wenn sich Arten in der Schweiz ausbreiten,
wie das derzeit etwa beim
Weissrückenspecht oder bei Exoten
wie der Nilgans der Fall ist. Die weiterhin
erfreulich zunehmende Zahl von
Meldungen über ornitho.ch oder die
NaturaList-App bedingen strukturelle
Anpassungen in Datenbanken und
bringen Herausforderungen für die
Datenspeicherung und die Datenanalyse
mit sich.
Das Shifting-Baseline-Syndrom
wird nicht verschwinden – aber dank
langfristig angelegten Monitoringprogrammen
können wir und künftige
Generationen besser damit umgehen.
PD Dr. Gilberto Pasinelli
Wissenschaftlicher Leiter