Rufe und Gesänge

Der Gesang ist bei vielen Arten in Strophen gegliedert. Sie bestehen aus einzelnen Tönen oder Elementen, die zu Silben zusammengefasst werden können, aus Phrasen und Motiven.

Die meisten Vogelarten verfügen auch über Rufe. Sie werden von beiden Geschlechtern und von Jungvögeln geäussert. Rufe sind meist viel einfacher als der Gesang. Sie werden in unterschiedlichsten Situationen verwendet. Je nach ihrer (oft nur vermuteten) Funktion unterscheidet man eine fast unüberschaubare Zahl. Da gibt es Bettelrufe der Jungen, Kontaktlaute, Drohrufe, Flugrufe, Alarmrufe und viele mehr.

Bei der Amsel kann man anhand der sehr verschiedenen Alarmrufe hören, ob der Feind aus der Luft kommt oder sich am Boden befindet. Ist ein Greifvogel in der Luft, lässt die Amsel einen feinen, langgezogenen Pfiff ertönen; schleicht eine Katze ums Gebüsch, zetert sie laut und mit abgehackten Rufreihen. Diese Einteilung ist allerdings eine grobe Vereinfachung. Das 14-bändige «Handbuch der Vögel Mitteleuropas» widmet den unterschiedlichen Rufen der Amsel und ihrer Bedeutung mehr als 5 Seiten!

Interessant sind die Luftalarmrufe, da sie bei vielen Vogelarten praktisch gleich tönen: ein langgestrecktes, leicht abfallendes «sieeh ». In diesem Fall findet offensichtlich auch eine Verständigung über Artgrenzen hinweg statt, und das ist auch sinnvoll: Amsel, Kohlmeise, Buchfink und Rohrammer (einige dieser mit sehr ähnlichen Rufen alarmierenden Arten) sind z.B. durch einen jagenden Sperber gleichermassen gefährdet, und wenn der erste Alarmruf ertönt, stürzen alle in die nächste Deckung.

Trottellummen brüten oft in grosser Zahl auf schmalen Felsbändern an den Meeresküsten Nordeuropas. Bei Störungen fl iegen die Altvögel weg, und die Jungen verkriechen sich in Felsspalten. Aber sie finden ihre Eltern zuverlässig wieder. Sie erkennen sie nämlich an den individuellen Rufen. Der Berner Verhaltensforscher Beat Tschanz und seine Studierenden haben nachgewiesen, dass die Jungen den Elternruf schon im Ei, also vor dem Schlüpfen kennen lernen: eine ganz erstaunliche Leistung.

Auch wir Menschen können uns die individuellen Lautäusserungen von Vögeln zu Nutze machen: Anhand der unterschiedlich aufgebauten Balzstrophen von Waldschnepfenmännchen lassen sich diese dämmerungsund nachtaktiven Vögel zählen.

Ein junger Kuckuck bettelt so intensiv wie eine ganze Brut seiner Wirtsvogelart. Mit seinen Rufen bringt er seine Zieheltern dazu, ihn mit riesigen Futtermengen zu versorgen.

Die Grenze zwischen Ruf und Gesang ist nicht immer klar. Der bekannte Regenruf des Buchfinken beispielsweise, auf den wir später zurückkommen, hat eher die Funktion eines Gesangs in geringer Intensität. Das unauffällig klappernde Geräusch der Haubenmeise ist fast identisch mit den Alarmrufen von Kohl- und Blaumeise, von der Funktion her aber als Gesang dieser Art zu identifizieren.