© Marcel Burkhardt
Grossflächige Revitalisierungen funktionieren – und wie!
Revitalisierungen von Fliessgewässern bieten eine Chance für den stark gefährdeten Flussuferläufer. Die Förderung dieses Watvogels ist aufwändig und braucht Geduld, kann aber spektakuläre Erfolge mit sich bringen.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war der Flussuferläufer in der Schweiz auch im Mittelland noch weit verbreitet. Er besiedelt bevorzugt vielfältige Auengebiete, die mindestens vier Hektaren umfassen. Dort versteckt er sein Nest in der aufkommenden lückigen Vegetation auf Inseln und in Uferbereichen aus Kies, Schlick und Sand. Flussregulierungen sowie der Bau von Flusskraftwerken haben bei uns jedoch viele Brutplätze zerstört, und der heutige Zustand unserer Fliessgewässer wird den Ansprüchen des Flussuferläufers mehrheitlich nicht mehr gerecht. Heute brüten in der Schweiz daher nur noch rund 100 Brutpaare, die sich auf die Voralpen und Alpen beschränken. Wegen seines kleinen Bestands ist er auf der Roten Liste der Brutvögel als «stark gefährdet» eingestuft. Mit einem Anteil von über 60 % hat der Kanton Graubünden eine besondere Bedeutung und Verantwortung für den Flussuferläufer in der Schweiz.
Revitalisierungen von Fliessgewässern, wie sie die 2011 in Kraft getretene Revision des Gewässerschutzgesetzes fordert, bieten eine Chance zur Wiederherstellung von Lebensräumen, die auch dem Flussuferläufer zugutekommen können. Der grosse Raumbedarf des Flussuferläufers und seine Empfindlichkeit gegenüber menschlichen Störungen während der Brutzeit stellen jedoch grosse Herausforderungen dar. Der Erholungsdruck entlang der Gewässer ist gerade in der dicht besiedelten Schweiz sehr hoch. Für eine erfolgreiche Förderung des Flussuferläufers sind daher Massnahmen zur Besucherlenkung unumgänglich.
Vorbildliche Revitalisierung von Beverin und Inn
In den Oberengadiner Gemeinden Bever und La Punt werden Projekte zur Revitalisierung der Flüsse Beverin und Inn durchgeführt, die in vielen Aspekten beispielhaft und schweizweit in ihrer Grösse einzigartig sind. Seit 2012 wurden gut zwei Flusskilometer revitalisiert. Aktuell laufen die Vorbereitungen für die Revitalisierung von weiteren zwei Fusskilometern entlang des Inns. Finanziell getragen wird dies grösstenteils vom Bund, dem Kanton Graubünden, Pro Natura Schweiz, dem Fonds Landschaft Schweiz, dem naturmade star-Fond des EWZ und der Ernst Göhner Stiftung. Die Vogelwarte beteiligt sich seit 2008 an diesen Projekten und dokumentiert seither die Entwicklung der Vogelwelt. In den letzten beiden Jahren führte die Vogelwarte zudem ein Besuchermonitoring durch und untersuchte die Wirksamkeit der Besucherlenkung. In der Begleitgruppe des Projekts leistet die Vogelwarte zudem fachliche Unterstützung zugunsten der Vogelwelt.
Seit 2021 ist ein Besucherlenkungskonzept in Kraft, das eine Kombination von Information, Sensibilisierung, physischer Lenkung, Geboten und Verboten anwendet. Die Besucher werden an strategisch wichtigen Orten mit Tafeln informiert und zu verschiedenen Themen sensibilisiert. Zusätzliche Informationen werden über eine Internetseite sowie mit Broschüren zur Verfügung gestellt und verbreitet. Exkursionen, ein für Kinder entwickelter Forschungsrucksack und weitere Aktivitäten ergänzen dieses Angebot. Das Wegnetz wurde für Fussgänger, Velofahrende sowie Reitende bestmöglich entflechtet und entsprechend signalisiert. Zur Wegleitung wurden natürliche Hindernisse und Absperrungen eingesetzt, um sensible Bereiche abzutrennen und besser vor Zutritt zu schützen. An gewissen Wasserstellen ist der Zugang für Spiel oder Picknick hingegen explizit erwünscht und entsprechend ausgeschildert. Nicht zuletzt werden die Besuchenden während der Brutzeit des Flussuferläufers (Mitte April bis Ende Juli) gebeten, sensible Bereiche wie Kiesinseln nicht zu betreten. Auf bestimmten Wegen gelten ein Leinengebot für Hunde sowie Fahr- und Reitverbote. Die Ergebnisse des Besuchermonitorings der Vogelwarte zeigen die Attraktivität des Gebiets für die Besucher und die Notwendigkeit der Besucherlenkung auf: Durchschnittlich sind im Gebiet über 100 Personen pro Tag und an schönen Ferientagen weit über 200 Personen unterwegs! Erfreulich stimmt aber, dass über 95 % aller Besuchenden die vorgegebenen Wege und Wasserstellen benutzen und damit belegen, dass die Massnahmen überwiegend wirksam sind.
Neuer Lebensraum für Flussuferläufer, Flussregenpfeifer und Co.
Mit der Revitalisierung wurden typische Auenlebensräume geschaffen, die der Flussuferläufer als Zielart solcher Aufwertungen rasch wieder besiedelte. Nach Abschluss der ersten Etappe 2013 brüteten alljährlich ein bis zwei Brutpaare in diesem gut 600 Meter langen Abschnitt. Die zweite Bauetappe über weitere 1,6 Flusskilometer wurde im Sommer 2020 beendet und hatte einen rasanten Anstieg auf insgesamt zehn Brutpaare zur Folge. Das ist ein fantastischer Erfolg für die Natur und die Artenförderung und hat die Erwartungen weit übertroffen. Die vielen Brutpaare des Flussuferläufers zeigen, dass die Auenlandschaft in Bever von hoher Qualität ist. Durch die dritte Projektetappe bis nach La Punt ist eine weitere Stärkung des Brutbestands zu erwarten. Für die Vogelwarte sind diese grossartigen Ergebnisse zusätzliche Motivation, um diese Revitalisierungsprojekte weiterhin zu unterstützen.
Von den Aufwertungen profitiert aber nicht nur der Flussuferläufer: Mindestens zwei Brutpaare des ebenfalls stark gefährdeten Flussregenpfeifers brüten hier regelmässig. Diese zweite Watvogelart, ebenfalls eine Zielart für grossflächige Revitalisierungen von Fliessgewässern, nistet auf vegetationsfreien Kiesflächen und ist daher noch störungsanfälliger als der Flussuferläufer. In den umliegenden Grauerlen- und Weidenauen kommt die Gartengrasmücke in bemerkenswert hohen Revierdichten vor. Auch Klappergrasmücke, Wendehals, Braunkehlchen und Neuntöter brüten hier regelmässig, während bei Schafstelze und Krickente bis jetzt Einzelbruten festgestellt wurden. Weitere charakteristische und seltene Tier- und Pflanzenarten wie Biber, Fischotter, Kreuzotter, Äsche oder Deutsche Tamariske haben das Gebiet erfolgreich besiedelt.
Ein Erfolgsrezept
Im Oberengadin hat sich gezeigt, dass grossflächige Flussrevitalisierungen hohe Erfolgsaussichten für die Förderung von Flussuferläufer und Flussregenpfeifer haben. Dazu müssen sie mit Rücksicht auf die Bedürfnisse dieser beiden Zielarten geplant und umgesetzt werden sowie eine umsichtige Besucherlenkung beinhalten, die bereits in der Projektplanung integriert und berücksichtigt wird. Auf diese Weise können potenzielle Konflikte diskutiert und Lösungen gefunden werden, die danach auch den Besuchenden klar kommuniziert und von ihnen akzeptiert werden.
Gut Ding ist aufwändig und will Weile haben. Die jeweiligen Gemeinden und ihre Bevölkerung (Landwirtschaft, Fischerei, Tourismus, Behörden), die kantonalen Fachstellen für Jagd und Fischerei sowie Natur und Umwelt, die beauftragten Ingenieurbüros Eichenberger Revital, Hunziker, Zarn und Partner sowie ecowert, Naturschutzorganisationen und Artenspezialisten als wichtigste Partner dieses Projekts dürfen zufrieden auf über 15 Jahre gemeinsame Arbeit zurückschauen. Die Revitalisierung unserer Fliessgewässer ist eine Aufgabe, die uns noch über Generationen beschäftigen wird und überaus lohnend sein kann. Die grossflächigen Flussrevitalisierungen im Oberengadin haben schon jetzt enorme Gewinne für die Biodiversität gebracht und vielfältigen Mehrwert für Mensch und Natur geschaffen. Sie sind ein hervorragendes Vorzeigebeispiel für weitere Projekte.
Es zwitscheret dihei
Die Podcast-Reihe «Es zwitscheret dihei / À vol d’oiseaux» der Schweizerischen Vogelwarte lässt Sie in die Welt einzelner Vogelarten eintauchen. Unsere Fachleute berichten von ihren Erfahrungen in der Erforschung, beim Schutz und bei der Förderung der Vögel und erzählen Faszinierendes über die Lebensweise der verschiedenen Vogelarten, so auch zum Flussuferläufer. www.vogelwarte.ch/podcast