Botschafter aus dem Osten
In den letzten hundert Jahren hat die Schweizer Brutvogelwelt verschiedentlich neue Arten hinzugewonnen, insbesondere aus dem Osten. Abgesehen von den bemerkenswerten Ausnahmen Wacholderdrossel und Türkentaube sind die Neuankömmlinge aber weiterhin eher seltene Gäste mit schwankenden Beständen.
Innerhalb der Westpaläarktis bilden die mitteleuropäischen Länder in verschiedener Hinsicht eine Schnittstelle. Klimatisch gesehen erleben wir hier einen allmählichen Wechsel vom ozeanischen Typ in Westeuropa zum kontinentalen Typ in Osteuropa. In biogeografischer Hinsicht treffen hier Arten westlichen oder afrikanischen Ursprungs auf Vertreter östlicher Herkunft. Die Schweiz liegt am Westrand dieser Übergangszone und damit noch in Reichweite der wellenartigen Vorstösse mancher östlicher Arten. Zehn von ihnen sind in den letzten hundert Jahren bis zu uns gelangt. Zwei davon, Wacholderdrossel und Türkentaube, sind hier mittlerweile weit verbreitet. Die anderen Arten – Weissrückenspecht, Beutelmeise, Schlagschwirl, Grünlaubsänger, Sperbergrasmücke, Zwergschnäpper, Zitronenstelze und Karmingimpel – sind immer noch selten und zeigen starke Bestandsschwankungen.
Nach Wacholderdrossel und Türkentaube, deren erste Schweizer Brutnachweise bereits 1923 bzw. um 1950 erbracht worden waren, folgten 1952 mit Sperbergrasmücke und Beutelmeise die nächsten östlichen Arten. Seither gab es bei der Beutelmeise bis 2014 32 weitere Bruten, allerdings nur zwei im 21. Jahrhundert. Die Sperbergrasmücke hatte ihre Bestandshöhepunkte in den Sechziger- und Siebzigerjahren (15–20 Paare) sowie zu Beginn der Neunzigerjahre. 2013–2016 waren nur noch wenige Reviere besetzt.
Singende Karmingimpel sind in der Schweiz erstmals 1979 festgestellt worden; 1983 kam es zum ersten Brutversuch. Nach einer Ansiedlungswelle in den Neunzigerjahren ist seit 2010 ein weiterer Vorstoss im Gang, der bisher allerdings nicht über den Alpenbogen hinaus reicht.
Der Weissrückenspecht ist seit 1981 in Liechtenstein und seit 1996 in der Schweiz nachgewiesen, wo er seit mindestens 1996 bzw. 1999 auch brütet. Mittlerweile scheint er im Prättigau GR und im Rheintal fest angesiedelt zu sein und langsam nach Westen vorzudringen.
Zitronenstelze, Zwergschnäpper und Schlagschwirl wagen sich nur zögerlich in die Schweiz oder in deren Nähe: Von den ersten beiden Arten gibt es je zwei Brutnachweise aus den Jahren 1997 und 2012 bzw. 2003 und 2006; der Schlagschwirl hat 2011 knapp jenseits der Grenze gebrütet. Beim bisher letzten Ankömmling, dem Grünlaubsänger, scheint die Ansiedlung mit mehr Schwung zu erfolgen, soweit man dies schon beurteilen kann: Zwischen 2014 und 2017 kam es bei vier Revierbesetzungen zu mindestens einer Brut, was in naher Zukunft auf eine positive Entwicklung hoffen lässt.
Die hier beschriebenen Vorstösse und Rückzüge sind nicht vorhersehbar. Die Ursachen bleiben im Dunkeln, stehen aber vermutlich im Zusammenhang mit der Bestandsdynamik von Populationen am Rand des Areals, bei der auch Zufälle eine Rolle spielen.
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