Felswände – spektakuläre und wichtige Rückzugsorte
Felswände sind einzigartige Lebensräume. Spezialisierte Vogelarten finden dort Nistplätze, die ausserhalb der Reichweite von Fressfeinden liegen. Lange Zeit blieben diese Rückzugsorte unberührt, doch heute sind die zunehmenden Freizeitaktivitäten eine neue Herausforderung für die Erhaltung ihrer Naturwerte.
Felswände, Felsenkessel und tiefe Schluchten in den Alpen und im Jura, Molassefelsen im Mittelland oder vom Menschen gemachte Steinbrüche – felsiges, senkrechtes Gelände kann in der Schweiz viele Formen annehmen. Diese unterscheiden sich vor allem in Bezug auf Gesteinsart, Ausrichtung, Höhe, Pflanzenbewuchs und Zerklüftungsgrad. Diese Standortfaktoren beeinflussen die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften jeder Felsformation. Auch die räumliche Verteilung der Felswände spielt eine Rolle: In den Alpen sind sie praktisch überall vorhanden, im Jura schon spärlicher, und im Mittelland kommen sie nur noch sehr selten vor.
Sichere Nistplätze für Brutvögel
Unter den Vögeln können spezialisierte Arten wie der Mauerläufer Felswände auch zur Nahrungssuche nutzen. Aber diese bieten in erster Linie sichere Brutplätze, denn kaum ein Bodenfeind getraut sich dorthin. Häufig kommt es dagegen zwischen Brutnachbarn derselben Felswand zu Konflikten und zu Fällen von Prädation. Davon können Altvögel, Küken oder Eier betroffen sein. Bekannt für solche Auseinandersetzungen ist vor allem das Trio Uhu, Wanderfalke und Kolkrabe: Je häufiger Uhus oder Wanderfalken am Brutplatz gestört werden, umso grösser ist die Chance für Kolkraben, dort Küken oder Eier zu erbeuten. Hingegen ist der Uhu als Brutnachbar eine direkte Gefahr für Alt- und Jungvögel des Wanderfalken und des Kolkraben.
Einige Felsbrüter haben mit der Zeit gelernt, künstliche Brutplätze zu nutzen, die natürlichen Felsformationen gleichen, beispielsweise Strassengalerien, Brücken, Kirchtürme oder Gebäude. Dazu gehören Greifvögel und Eulen wie Turm- und Wanderfalke sowie Uhu, Rabenvögel wie Kolkrabe, Dohle und Alpendohle, aber auch Schwalben und Segler. Bei einzelnen Arten wie der Felsenschwalbe nimmt die Tendenz, an Gebäuden zu brüten, noch immer zu. Bei anderen hingegen ist dieser Prozess bereits abgeschlossen: Mehlschwalbenkolonien etwa findet man kaum noch an Felswänden, sondern praktisch nur noch im Siedlungsraum. Steinadler, Kolkrabe, Dohle und in seltenen Fällen auch Mauersegler können auch auf oder in Bäumen brüten. Umgekehrt nisten diverse Waldvogelarten gelegentlich auch in Felswänden, vom Waldkauz über die Hohltaube bis zu verschiedenen Meisenarten.
In der Schweiz gibt es von den Tieflagen bis in die alpine Stufe rund 20 typische Arten von Felsbrütern. Bei den meisten von ihnen sind die Bestände intakt, aber es gibt auch Ausnahmen: So ist die Situation beim Uhu instabil und von Region zu Region unterschiedlich. Auch die Wanderfalkenbestände zeigen nach einer langjährigen Zunahme gewisse Stagnations- oder sogar Rückgangstendenzen. Beide Arten erinnern daran, dass das Thema Felsbrüterschutz in der Schweiz nach wie vor aktuell ist.
Negative Auswirkungen menschlicher Aktivitäten
Die Nistplätze von Felsbrütern sind zwar gut gegen Bodenfeinde geschützt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden sie aber mehr und mehr von Freizeitaktivitäten in Beschlag genommen. Sorgten zu Beginn die aufkommende Kletterei und der Betrieb von Klettersteigen für neue Störungen, waren es später Extremsportarten wie das Basejumping. Diese Freizeitaktivitäten erzeugen einen zusätzlichen Druck auf die Bestände dieser Arten, von denen einige bereits durch andere anthropogen bedingte Todesursachen wie Kollisionen, Stromschlag oder sogar Vergiftungen geschwächt sind. Die beeindruckenden Landschaftsbilder rund um Felswände ziehen auch touristische Klang- und Lichtevents an, die dazu führen können, dass Felsbrüter die davon betroffenen Nistplätze aufgeben. Am Beispiel der etwa 200 Steinbrüche in unserem Land zeigen sich die Wechselwirkungen zwischen menschlicher Tätigkeit und der Vogelwelt besonders eindrücklich: Kurz nach dem Ende der Ausbeutungsperiode werden diese Sekundärlebensräume oftmals zugeschüttet, ohne Rücksicht auf die spezialisierte Vogelwelt zu nehmen, die sich inzwischen dort angesiedelt hat. In solchen Fällen müssen Ersatzwände als taugliche Alternativbrutplätze eingerichtet werden.
Angepasste Schutzmassnahmen
Glücklicherweise ist aber in den meisten Fällen ein konfliktfreies Nebeneinander zwischen Felsbrütern und menschlichen Aktivitäten möglich. Da die Lage der Nistplätze empfindlicher Arten oder von Prioritätsarten (z.B. Uhu, Wanderfalke) bekannt ist, kann man vorausschauend handeln und Schutzmassnahmen vorschlagen, die der örtlichen Situation angepasst sind. Damit der Schutz der Felsbrüter nachhaltig gelingt, ist es aber unerlässlich, die Organisationen der betroffenen Interessengruppen beizuziehen und bei der Suche nach Lösungen als Partner ins Boot zu holen. Dieser Ansatz verhilft allfälligen räumlichen oder zeitlichen Zugangsbeschränkungen zu erhöhter Akzeptanz, auch dank informierten und kooperativen Felsnutzern im Gelände.
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