Im Land der unbegrenzten Freizeitmöglichkeiten?
Viele Lebensräume von Vögeln werden auch von Erholungssuchenden und Freizeitsportlern genutzt. Dabei werden Vögel in unterschiedlichem Ausmass gestört, was zu einer Reduktion der Bestände gewisser Vogelarten führen kann. In der dicht besiedelten Schweiz mit vielen Erholungssuchenden in der Natur sind störungsempfindliche Arten besonders gefährdet.
Störungen sind Ereignisse, die zu plötzlichen Änderungen im Verhalten und/oder Stoffwechsel führen. Als Feldbeobachter erkennt man Störungen in der Regel am Fluchtverhalten, an Warnrufen, am aufmerksamen Sichern oder am Ablenkverhalten am Brutplatz. Doch Störungen festzustellen ist nicht immer einfach. Auch Vögel, die bei Störungen reglos verharren, können gestört sein. So wurde für Hühnervögel nachgewiesen, dass sie in solchen Situationen Stresshormone ausschütten und einen veränderten Herzschlagrhythmus aufweisen, aber sonst keine der auffälligen Verhaltensweisen zeigen.
Die Auswirkungen von Störungen sind oft nur schwer erfassbar. Meist sind aufwändige Methoden nötig, da das gleiche Individuum je nach seiner Körperverfassung, den Umweltbedingungen sowie der Stärke und Dauer einer Störung unterschiedliche Reaktionen zeigen kann. Zudem wirken meist mehrere Faktoren in Kombination (z.B. Störungen mit Lebensraumveränderungen), so dass es oft schwierig ist abzuleiten, welchen Einfluss Störungen für sich genommen haben. Letztlich können aber Störungen Vögel aus gewissen Gebieten verdrängen oder die Lebensdauer oder die Fortpflanzungsrate eines Individuums reduzieren und so langfristig zum Rückgang einer Population führen. Für manche Vogelart gelten Störungen zusammen mit dem Verlust von Lebensräumen inzwischen als Hauptursachen für deren Rückgang.
Wann ist eine Störung besonders heikel?
Während der Zeit der Ansiedlung für die Brut sind Vögel besonders empfindlich auf Störungen, bei vielen Arten also im Frühling, da sie dann die Eignung eines Gebiets für ihre Brut testen. Doch auch zur eigentlichen Brutzeit wirken sich Störungen besonders stark aus, da sie nicht nur die jetzige, sondern auch die künftige Generation beeinträchtigen können. Wie gerne betrachten wir ein tolles Foto eines Steinadlers? Doch dieses gelingt oft nur in Nestnähe, was für den Nachwuchs fatale Auswirkungen haben und zu Brutverlusten führen kann. Doch sind auch weniger spektakuläre Arten und sogar Kulturfolger betroffen: Leichte, menschliche Störungen wie auch angeleinte Hunde können die Siedlungsdichte und sogar die Artenvielfalt reduzieren, starke Störungen sogar zum Brutabbruch führen. Auch die Qualität der Nachkommen kann durch moderaten und kurzfristigen Stress negativ beeinflusst werden, da Stresshormone während der Eiablage ins Ei eingelagert werden und die Eigenschaften der Nachkommen beeinflussen.
Besonders störungsgefährdet sind Vogelarten, deren Lebensräume im Fokus von Outdoor-Aktivitäten stehen. Flussuferläufer und Flussregenpfeifer, die auf den wenigen, verbliebenen Kiesbänken unserer Flüsse brüten, werden durch Paddelboote und Badegäste erheblich gestört, was bei diesen Arten regelmässig zu Brutabbrüchen führt. Auch Klettersport kann zu Konflikten mit felsbrütenden Arten wie Wanderfalke, Uhu und Steinadler führen. Und wer denkt schon daran, dass selbst Eiskletterrouten im Hochwinter brütende Bartgeier beeinträchtigen können?
Für Raufusshühner ist aber nicht nur die Brutzeit eine heikle Phase, für sie besteht im Winter ein energetischer Engpass. Zudem wird der potenziell verfügbare Lebensraum durch die diversen Freizeitaktivitäten erheblich verringert. Besonders Wintersportaktivitäten abseits der Piste (Skitouren, Schneeschuhwandern, Freeriding) finden in den Überwinterungshabitaten von Birk-, Auer- und Alpenschneehuhn statt. Das Aufscheuchen von Birk- und Auerhühnern führt zu einem erhöhten Energieverbrauch und einer vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen. Aber auch der Massenskitourismus auf der Piste kann negative Effekte haben: Die Anzahl balzender Birkhähne ist in Skigebieten geringer als ausserhalb. Im Wallis ist nur knapp ein Viertel des Überwinterungsgebiets des Birkhuhns nicht durch Wintersport beeinträchtigt.
Outdoor-Aktivitäten – immer und überall
Freizeitaktivitäten im Grünen sind beliebt und der «Outdoor»-Sport wird auch in Zukunft weiter zunehmen. Dabei dringen die Freizeitsportler immer mehr in entlegene Lebensräume vieler Vogelarten ein. Ein Beispiel für eine solche neue Freizeitaktivität ist Geocaching, eine Art Schnitzeljagd. Sie kann insbesondere im Bereich von Felsen, in denen sensible Arten nisten, zu erheblichen Störungen führen, da die Geocaches oft stundenlang in ansonsten ruhigen Gebieten gesucht werden. Ein ebenfalls neuer Trend ist das Stand-up-Paddeln, bei dem Sporttreibende auf einer Art Surfbrett stehend auf dem Gewässer paddeln. Dabei halten sie sich – meist aus Unwissenheit – nicht an vorgeschriebene Abstände zu bestehenden Schutzgebieten, was oftmals zur Flucht von Wasservögeln führt; dies wiederum wird von den Sporttreibenden selbst in der Regel gar nicht bemerkt. Werden junge Wasservögel (z.B. Enten, Haubentaucher) von ihren Eltern getrennt, haben sie kaum eine Überlebenschance.
Und wer dachte noch vor fünf Jahren, dass Drohnen zum reinen Vergnügen benutzt und im zivilen Alltag allgegenwärtig sein werden? Heute sind sie im Bereich von grossen Vogelansammlungen und Felswänden mit sensiblen Brutvogelarten eine nicht tolerierbare Störung, und es gibt aus Naturschutzgründen bereits Flugverbotszonen in Wasser- und Zugvogelreservaten sowie in eidgenössischen Jagdbanngebieten.
Neben diesen und anderen Freizeitaktivitäten können auch Grossveranstaltungen zu erheblichen Störungen führen. Feuerwerke, Lichtshows und Konzerte unweit sensibler Gebiete können gravierende Folgen haben, zum Beispiel auf den Bruterfolg einiger Vogelarten, aber auch auf die Qualität des Lebensraums.
Lösungen und Abhilfemöglichkeiten
Um die bestehenden Störungen durch Freizeitaktivitäten und deren negativen Auswirkungen zu beheben, müssen die Ansprüche der Vögel und der freizeitsuchenden Menschen entflochten werden – zeitlich oder räumlich. Dies wird durch Wegegebote oder durch das Einrichten von störungsfreien Schutzgebieten erreicht. Die Wirksamkeit solcher Schutzzonen ist aber nur bei klarer Signalisierung gewährleistet. Auf Basis von Empfehlungen kann auch in ungeschützten Gebieten das Risikopotenzial drastisch reduziert werden. Mit der Kampagne «Respektiere Deine Grenzen» wurden viele Gebiete zum Schutz von Wildtieren beruhigt. Sie sollte dringend weitergeführt und auch auf den Sommer ausgedehnt werden. Nach dem Vorsorgeprinzip sind für unsere Vögel Refugien zu schaffen – seien sie zeitlich und/oder räumlich. Nur wenn die Nutzergruppen Ruhezonen und -zeiten akzeptieren, Wege- und Pistengebote einhalten, ist ein langfristiger Schutz störungssensibler Arten in einem so dicht bevölkerten Land wie der Schweiz erreichbar.
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