Langstreckenzieher ziehen den Kürzeren
Die Bestände der Langstreckenzieher gehen insgesamt zurück, jene der Kurzstreckenzieher und Standvögel nehmen eher zu. Diese Entwicklung ist keineswegs auf die Schweiz beschränkt. Langstreckenzieher sind spezialisierter und stärker von Lebensraumveränderungen im Brut- und Überwinterungsgebiet betroffen und damit verletzlicher als Kurzstreckenzieher und Standvögel.
Unsere Brutvögel lassen sich aufgrund ihres Zugverhaltens in zwei Gruppen einteilen. Die Standvögel und Kurzstreckenzieher verbringen den Winter im Brutgebiet oder weichen in den Mittelmeerraum aus. Darunter sind viele Arten, von denen nur ein Teil der Population zieht, der andere im Brutgebiet überwintert. Zu diesen sogenannten Teilziehern zählt beispielsweise das Rotkehlchen. Die zweite Gruppe umfasst Arten, die grösstenteils in Afrika südlich der Sahara überwintern. Nach Asien (v.a. Indien) ziehen von uns aus nur wenige Arten, beispielsweise der Karmingimpel.
Die Bestandsentwicklung der Langstreckenzieher in der Schweiz ist seit 1990 insgesamt negativ, während die Bestände der Standvögel und Kurzstreckenzieher zunehmen. Ähnliche Befunde wurden auch in anderen Ländern Europas gemacht. Besonders Langstreckenzieher, die in offenen Lebensräumen überwintern und in Europa in offenen Lebensräumen brüten, zeigen langfristige Abnahmen.
Langstreckenzieher sind besonders verletzlich
Die Schwierigkeiten der Langstreckenzieher akzentuierten sich schon ab etwa 1960. Eine erste Rückgangswelle war bis 1970 zu verzeichnen, teilweise bis in die frühen Achtzigerjahre. Sie betraf die im Sahel überwinternden Arten, die unter der damaligen Dürre litten. Eine zweite Phase begann in den Achtzigerjahren und umfasste Arten, die den Winter in den Tropen und im Bereich der guineischen Wälder Westafrikas verbringen, zum Beispiel Fitis und Waldlaubsänger. Aber auch heute betreffen die Rückgänge vor allem Arten, die in trockenen, offenen Lebensräumen Afrikas überwintern.
Langstreckenzieher sind eher Spezialisten. Sie sind darauf ausgerichtet, dass sie nur kurz im Brutgebiet verweilen, dort Lebensräume bewohnen und Nahrung suchen, die nur eine Zeit lang verfügbar sind (meist Insekten in dichter Vegetation oder in offenen Habitaten, die im Winter nicht bewohnbar wären). Demgegenüber müssen Standvögel und Kurzstreckenzieher eher Generalisten sein (z.B. Rabenvögel, Finkenvögel oder Sperlinge), die über die Jahreszeiten mit unterschiedlicher Nahrung und mit sich stark wandelnden Lebensräumen zurechtkommen. Zudem halten sich Langstreckenzieher an ganz verschiedenen Orten auf, etwa 4–5 Monate im Brutgebiet, 2 Monate auf dem Herbst- und Frühlingszug und 5–6 Monate im Winterquartier. Gewisse Arten suchen in Afrika in einer Wintersaison weit auseinanderliegende Gebiete auf; andere Arten bleiben am selben Ort und kehren dorthin auch in den folgenden Jahren zurück. Langstreckenzieher sind also in mehrfacher Hinsicht verletzlich. Eine Habitatveränderung an irgendeinem von ihnen aufgesuchten Ort kann sie rasch in Engpässe bringen. Sie müssen unbedingt zu bestimmten Zeiten an gewissen Orten sein, um ihren engen Jahresfahrplan einzuhalten. Und auf dem Zug sind viele Arten einer hohen Mortalität ausgesetzt.
Veränderungen im Brutgebiet für Abnahme entscheidend
Unter den Langstreckenziehern gibt es denn auch verhältnismässig mehr Arten als unter den Standvögeln und Kurzstreckenziehern, die in offenen Lebensräumen vorkommen, also im Kulturland, aber auch in Feuchtgebieten. Da die Veränderungen in diesen Lebensräumen sowohl im Brutgebiet als auch im Winterquartier sehr stark waren, ist es nicht möglich, den Rückgang einzig dem einen oder anderen Aufenthaltsort zuzuweisen.
Im Brutgebiet haben sich insbesondere die offenen Habitate verschlechtert: Die Landwirtschaft ist stark intensiviert worden, mit dem entsprechenden Rückgang von Vogelarten, die in diesen Gebieten brüten. Feuchtgebiete sind eher zurückgegangen und leiden oft unter Austrocknung. Lokal führt das zum Verschwinden von Arten. Dass der Artenschwund der Langstreckenzieher vor allem in den tieferen, von menschlichen Aktivitäten stark geprägten Lagen der Schweiz erfolgte, ist ein starkes Indiz dafür, dass die Rückgänge unserer Langstreckenzieher zu einem grossen Teil «hausgemacht» sind.
Auch Veränderungen in den Rastgebieten und im Winterquartier wirken sich negativ aus
Auf dem Zug kann der Ausfall von Rastgebieten Zugvögel in grosse Schwierigkeiten bringen. Insbesondere Rastgebiete am Rand der Sahara sind für Vogelarten, die sich dort ihre Fettreserven anfressen, essenziell (in Nordafrika für den Herbstzug, im Sahel für den Frühlingszug). In den Siebzigerjahren litt die Sahelzone unter grosser Trockenheit, wodurch verschiedene dort überwinternde Arten starke Bestandseinbussen erlitten (z.B. Gartenrotschwanz, Trauerschnäpper, Uferschwalbe und Dorngrasmücke). Seit den Neunzigerjahren regnet es im Sahel wieder mehr, die vormalige Regenmenge wird aber nicht erreicht. Zudem leidet die Gegend unter Abholzung. Auch in den südlicheren Breiten Afrikas hat ein starker Landschaftswandel eingesetzt, indem Wälder gerodet und die Bäume der Savanne ausgedünnt werden sowie das Wasser vermehrt genutzt wird. Weitere negative Faktoren sind die Jagd auf Vögel im Mittelmeerraum und in Nordafrika sowie die Klimaerwärmung, die auch in den Durchzugsgebieten und in Afrika eher zu Dürren und unregelmässigen Regenfällen führt.
Langstreckenzieher haben erstaunliche Anpassungen hervorgebracht und zeigen enorme Flugleistungen. Rauchschwalbe, Nachtigall und Pirol schaffen es, den Peak an Insektennahrung im Sommer bei uns zu nutzen und die übrige Zeit in Gebieten zu verbringen, die Tausende von Kilometern entfernt sind. Wir müssen alles daran setzen, dass wir ihnen bei uns optimale Lebensbedingungen anbieten.
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