Neuankömmlinge in Siedlungen – auch heute noch!

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Mittelmeermöwen als Brutvögel auf Flachdächern sind in der Schweiz ein neueres Phänomen. © Jürg Hostettler

Die überbaute Fläche nimmt in der Schweiz immer mehr Raum ein. Bewohner offener Lebensräume werden dadurch verdrängt. Einzelne Arten profitieren jedoch davon, weil sie sich das Siedlungsgebiet als neuen Lebensraum erschliessen können. Diese sogenannte Urbanisierung erfolgt auch heute noch – jüngste Beispiele sind Ringeltaube und Mittelmeermöwe.

Die wohlklingende Stimme der Amsel ist im Siedlungsraum weit verbreitet. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Amsel jedoch noch ein reiner Waldvogel. Ab 1820 begann sie Städte zu besiedeln, zuerst in Deutschland, dann auch in weiteren Ländern. Dieser Urbanisierungsprozess erfolgte von Westeuropa nach Osten und ist im östlichsten Verbreitungsgebiet der Amsel auch heute noch nicht abgeschlossen. Andere Arten wie Hausrotschwanz sowie Mauer- und Alpensegler eroberten ebenfalls den Siedlungsraum, indem sie Gebäude als künstliche Felsen für ihre Bruten zu nutzen begannen. Heutzutage kommt ein Grossteil ihrer Schweizer Populationen in Siedlungsgebieten vor.

Urbanisierung als Anpassung und Neueroberung

Wer im Siedlungsraum zurechtkommen will, muss viele Herausforderungen meistern. Neben speziellen Habitatelementen, einer veränderten Artenzusammensetzung (z.B. neue Konkurrenten oder Beutegreifer, viele nicht-einheimische Pflanzen) und diversen Gefahrenquellen (z.B. Verkehr, Glas) bildet vor allem die hohe menschliche Präsenz mit ihren direkten und indirekten Störungen eine Herausforderung. Auch Lärm und Kunstlicht verlangen Anpassungen. Die Besiedlung von Städten kann unabhängig voneinander an mehreren Orten stattfinden (z.B. Elster) oder von einigen wenigen «Siedlungsgebietsspezialisten» einer bestimmten Art aus erfolgen, die sich mit ihren Nachkommen von einer Stadt in weitere Städte ausbreiten. So scheint es bei der Amsel einen eigentlichen Typ einer «Siedlungsamsel» zu geben. Solche Urbanisierungsprozesse erfolgen auch heute noch.

Das Phänomen «Stadtringeltaube»

Die Ringeltaube kam 1993–1996 in den Schweizer Siedlungsgebieten ausser in Genf und Basel nur sehr lokal vor. Die vermehrte Besiedlung von Städten und Dörfern hat erst mit der Jahrtausendwende eingesetzt. Um den Trend in Siedlungsgebieten zu eruieren, wurden 85 Kilometerquadrate (1 × 1 km) verglichen, die hauptsächlich im Siedlungsgebiet liegen und die 1993–1996 und 2013–2016 kartiert worden sind. In diesen Kilometerquadraten hat sich der Bestand der Ringeltaube verdreifacht. Somit ist die Zunahme in Siedlungsgebieten ungleich grösser als in den übrigen Lebensräumen (hauptsächlich Wald), wo sich der Bestand in derselben Periode «nur» verdoppelt hat. Zurzeit gibt es keine Hinweise, dass die Urbanisierung gesättigt ist – die Bestände in Siedlungsgebieten werden wohl noch weiter anwachsen.

Vergleich der Revieranzahl von Ringeltauben in 85 Kilometerquadraten mit einem hohen Siedlungsgebietsanteil, die sowohl 1993–1996 wie auch 2013–2016 kartiert wurden. Die sieben Quadrate in der Region Genf umfassten in den Neunzigerjahren 27 % aller Reviere im Siedlungsgebiet, während es 20 Jahre später noch 13 % waren.

Im Vergleich zu Europa erfolgte die Urbanisierung der Ringeltaube in der Schweiz erst spät. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sie begonnen, Städte wie Paris und London zu besiedeln. In Deutschland fand der Prozess der Urbanisierung zunächst zögernd statt. Erst ab den Sechzigerjahren stiegen die Bestände rapide an. Bis in die Neunzigerjahre folgten auch viele schwedische und finnische Städte. In etlichen Städten kommt die Ringeltaube bis in die Zentren vor, teilweise in beachtlichen Dichten von bis zu 25 Paaren/10 ha. Die Ringeltaube hat dabei ihre Scheu vor dem Menschen abgelegt und verhält sich ähnlich wie die Strassentaube. Diese Anpassung des Verhaltens begünstigt die Eroberung des Siedlungsraums stark. Auch bei etlichen anderen Arten ist im Siedlungsraum eine viel geringere Fluchtdistanz zu beobachten als in anderen Lebensräumen.

Die Besiedlung der Städte durch die Ringeltaube wird von milden Wintern, vom günstigen Nahrungsangebot, von einem geringen Prädationsdruck und vom allgemeinen Bestandsanstieg begünstigt. In vielen Gegenden Deutschlands ist die Dichte der Ringeltaube in stark urbanisierten Regionen höher als in den umliegenden Wäldern.

Milde Winter führten in der Schweiz bereits in den Neunzigerjahren zu mehr Winterbeobachtungen. Ab dem Winter 2003/2004 gab es einen sprunghaften Anstieg der Meldungen – davon stammen viele aus dem Siedlungsgebiet. Vermutlich sind Überwinterungen in Städten nicht nur bei der Ringeltaube anschliessenden Bruten vorangegangen, sondern auch bei weiteren Arten wie der Amsel. Siedlungsgebiete in unseren Breitengraden sind vorteilhaft für überwinternde Vögel, weil die Temperatur etwas höher ist als in der Umgebung und weil durch den Menschen direkt oder indirekt Nahrungsressourcen bereitgestellt werden (z.B. Fütterung, Abfälle, Beerensträucher, Schneeräumung).

Mittelmeermöwen brüten auf Flachdächern

Auch weitere Arten haben in den Siedlungen Fuss gefasst. So steht die Besiedlung von Städten durch die Mittelmeermöwe ebenfalls im Zusammenhang mit einem starken Bestandsanstieg. 2016 brütete die Mittelmeermöwe in rund zehnmal mehr Paaren in der Schweiz als 1993–1996. Die ersten Dachbruten gab es zwar schon 1994 bei Versoix GE. Die Anzahl Siedlungsbruten, meist auf Flachdächern, hat sich aber vor allem von 2013 bis 2016 vergrössert und in dieser Zeit fast verdreifacht. 2016 wurden 104 Bruten auf Gebäuden gefunden. Im Vergleich zu natürlichen Brutstandorten dürfte der Prädationsdruck auf Flachdächern geringer sein. Hingegen macht die stärkere Erhitzung auf den Dächern den Vögeln wohl mehr zu schaffen. Die Vorteile überwiegen aber offensichtlich, denn Dachbrüter nehmen oft weite Strecken zu den Nahrungsgründen im Kulturland oder an den Gewässern in Kauf.

In der Nähe vieler Mittelmeermöwenkolonien finden auch Bruten auf Flachdächern (Rhomben) statt. Dachbruten weit weg von Vorkommen an natürlichen Standorten sind (noch) eher selten.

Welches ist die nächste «Siedlungsart»?

Gewisse Arten brüten in den Städten Europas schon seit Jahrzehnten. In der Schweiz aber haben sie länger gebraucht oder kommen da noch gar nicht vor. Aus Deutschland zum Beispiel sind weitere Arten wie Heckenbraunelle, Singdrossel, Eichelhäher, Haubenmeise, Zilpzalp und Zaunkönig, ja sogar Beutegreifer wie Sperber, Habicht, Uhu und Waldohreule als Brutvögel in Siedlungsgebieten bekannt. All diese Arten brüten in der Schweiz (noch) nicht in Gärten oder Parks oder höchstens punktuell. Die Gründe dafür sind unbekannt, doch könnten die grösseren Dimensionen von Parks und Gärten die Besiedlung im nördlichen Nachbarland begünstigt haben.

In jedem Fall dürfen wir gespannt sein, welche Art uns als nächstes in unseren Grünanlagen überraschen wird. Damit es soweit kommt, sollten bei uns auch bei einer verdichteten Bauweise grosse Bäume sowie weitere noch vorhandene naturnahe Lebensräume erhalten bleiben sowie Gärten und Parks möglichst naturnah gepflegt werden.

Text: Thomas Sattler


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