Ein neues Standardwerk der Umweltbeobachtung: der Brutvogelatlas 2013–2016

Die Feldlerche gehört zu den Verlierern: Sie stellt eigentlich keine grossen Ansprüche an ihren Lebensraum. Trotzdem kommt sie vor allem mit der aktuellen Bewirtschaftung des Kulturlands nicht mehr zurecht und geht dramatisch zurück. Foto © Ingrid Fürderer
Die Entwicklung der Verbreitung der Schweizer Brutvögel ist ein Spiegelbild unseres Umgangs mit Natur und Umwelt. Der vorliegende Atlas zeigt die Verbreitung der Brutvögel über einen Zeitraum von über 60 Jahren auf und dokumentiert die zahlreichen Veränderungen in Bestandsdichte und Höhenverbreitung seit 1993–1996.
Unsere mehr als 200 Brutvogelarten brauchen ein vielfältiges Angebot an Lebensräumen und Strukturen. Deshalb zeigt die Entwicklung der Verbreitung der Brutvögel sehr gut auf, wie sich unsere Landschaft wandelt und welche Auswirkungen dies auf die Natur hat. Viele der vom Menschen verursachten Veränderungen laufen mit hoher Geschwindigkeit ab. Wie schon die beiden Brutvogelatlanten der Schweiz gezeigt hatten, deren Feldaufnahmen 1972–1976 und 1993–1996 stattfanden, widerspiegelt sich dies in der Verbreitung zahlreicher Arten auf dramatische Weise. Seit dem letzten Atlas hat sich nicht nur der Landschaftswandel beschleunigt. Dass sich dieser Wandel auch auf die Verbreitung einzelner Arten ausgewirkt hat, zeigen die verschiedenen Überwachungsprojekte der Schweizerischen Vogelwarte. Sie dokumentieren beispielsweise den Niedergang einst häufiger Arten wie der Feldlerche. In jüngster Zeit mehren sich zudem die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf Verbreitung und Häufigkeit einiger Arten.
Wie wirkt sich die zunehmende Überbauung im Mittelland oder die wieder zunehmende Bewaldung im Alpenraum aus? Konnte der ökologische Ausgleich in der Landwirtschaft die Abnahme der Vögel aufhalten, die auf landwirtschaftlich genutzte Flächen angewiesen sind? Welche Auswirkungen hat die Klimaerwärmung auf die Vogelwelt – sind wärmeliebende Arten tatsächlich eingewandert oder häufiger geworden? Die Beantwortung solcher Fragen ist in unserer Zeit wichtiger denn je. Die Antworten und Erkenntnisse zeigen uns, wie wir künftig mit unserer Natur und unseren Landschaften umgehen sollten und welche Korrekturen am heutigen Tun und Lassen nötig sind.
Lang- und kurzfristige Veränderungen dokumentiert
Erklärtes Ziel der Vogelwarte ist es, Verbreitung und Bestände aller Brutvögel alle 20 Jahre mit einem Atlas zu erfassen. Der Atlas 2013–2016 ist der dritte Atlas in dieser Folge. Zusammen mit dem «Historischen Brutvogelatlas», mit dem die Verbreitung der Brutvögel 1950–1959 dokumentiert worden ist, deckt er einen Zeitraum von über 60 Jahren ab, über den wir Veränderungen in der Verbreitung aufzeigen können. Er ist nach dem Atlas 1993–1996 der zweite Atlas, der Angaben über Bestandsdichten macht und der erste, der diesbezügliche Veränderungen analysiert. Die vielfach beobachtete oder vermutete Ausdünnung von Brutbeständen bei ungefähr gleichbleibender Verbreitung wird somit erstmals landesweit deutlich. Mit solchen quantitativen Daten können Fragen nach den Auswirkungen von Biodiversitätsförderflächen oder der veränderten Zusammensetzung des Waldes beantwortet werden. Auch sind heute detailliertere Analysen zur Höhenverbreitung möglich.
Mit dem Atlas 2013–2016 wurden für sämtliche Brutvogelarten der Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein folgende Hauptresultate erarbeitet:
- Verbreitung (Raster 10 × 10 km) sowie Entwicklung der Verbreitung im Vergleich zu 1950–1959, 1972–1976 bzw. 1993–1996
- Dichte oder Vorkommenswahrscheinlichkeit (modelliert für 1 × 1 km) sowie deren Entwicklung seit 1993–1996
- Höhenverbreitung sowie deren Entwicklung seit 1993–1996
- Nationaler Bestand

Der Atlas 2013–2016 belegt, dass in Gebieten mit naturnaher Bewirtschaftung immer noch gute Bestände von Kulturlandarten vorhanden sind. Damit liefert er wichtige Grundlagen für gezielte Massnahmen zur Förderung bedrohter Vogelarten.
© Markus JennyImmenses Engagement durch Freiwillige
Weil die Vögel durch ihre Färbung und ihren Gesang Menschen faszinieren, gibt es viele qualifizierte, erfahrene Ornithologinnen und Ornithologen. Die Vogelwarte kann sich glücklich schätzen, dass diese Beobachterinnen und Beobachter mit ehrenamtlicher Arbeit entscheidend zum Gelingen dieses Atlas beigetragen haben, indem sie zahllose Stunden mit Kartieren, Auszählen von Kolonien oder der Suche nach seltenen und heimlichen Arten investiert haben. Die über 2300 Kilometerquadrate, in denen Bestandserhebungen stattfanden, sind zufällig ausgewählt und damit repräsentativ. Neben Kulturland- und Waldflächen wurden auch Stadtzentren, Siedlungs- und Industriegebiete sowie kahle Flächen weit oberhalb der Waldgrenze bearbeitet, aber auch sehr artenreiche Lebensräume wie Auenwälder oder Feuchtgebiete. Nicht immer waren es Orte, die man sich zum Beobachten von Vögeln aussuchen würde. Aber bei der Feldarbeit für den Atlas ist eben alles ein bisschen anders! Die Mitarbeitenden haben in den vier Feldsaisons manche Gegenden durchstreift, die sonst nur selten ornithologisch erkundet werden. Wir bedanken uns ganz herzlich dafür, dass wir dieses ausserordentliche Potenzial an Fachwissen nutzen durften und dass so viele Beobachterinnen und Beobachter mit ihrem Engagement die Aufnahmen für den Brutvogelatlas überhaupt erst ermöglicht haben.
Wichtige Quelle für zukünftige Arbeiten
Wir erhoffen uns viel vom Brutvogelatlas 2013–2016: Er wird wie seine Vorgänger ein Standardwerk der Ornithologie und des Vogelschutzes der Schweiz und Liechtensteins sein. Zudem wird er eine unerlässliche Grundlage für gezielte Massnahmen zur Erhaltung und Förderung bedrohter Vogelarten sein. Die Resultate sind die Basis für Folgearbeiten, beispielsweise für die künftige Revision der Roten Liste der gefährdeten Vogelarten der Schweiz. Damit der Zugang zu den Resultaten für alle Interessierten gewährleistet wird, hat die Vogelwarte viel investiert, um die Ergebnisse in vier Sprachen auch online anzubieten (www.vogelwarte.ch/atlas). Die Feldarbeiten für den Brutvogelatlas 2013–2016 haben der Schweizer Ornithologie einen zusätzlichen Schub verliehen. Wir wollen mit diesem Gemeinschaftswerk, das nur dank der Unterstützung von über 3000 Ornithologinnen und Ornithologen aus allen Landesteilen entstehen konnte, möglichst viele Menschen für Vögel begeistern.