Aus Naturkatastrophen entsteht Vielfalt
Der Wald bedeckt rund ein Drittel der Fläche der Schweiz und spielt deshalb beim Artenschutz eine bedeutende Rolle. Seit einem Jahrhundert nimmt die Waldfläche zu und die Bestände werden dichter, dies auf Kosten spärlich bestockter Flächen, die für die Biodiversität besonders wichtig sind. Einzig Waldbrände und Stürme stören heutzutage diese Entwicklung.
In unseren Breitengraden bildet Wald das Endstadium der Vegetationsentwicklung auf praktisch allen Standorttypen unterhalb der alpinen Zone. Diese Vorherrschaft wird im natürlichen Zustand nur durch Naturkräfte wie Stürme, Hochwasser, Lawinen oder Waldbrände in Frage gestellt. Unsere heutige offene Landschaft ist deshalb die Folge jahrtausendealter tiefgreifender Veränderungen durch menschliche Aktivitäten.
Die Bewirtschaftung und Unterhalt der offenen Bereiche sind die wichtigsten Mittel des Menschen gegen das Wiederausbreiten des Waldes. Darüber hinaus wird mit grossem Aufwand versucht, alle bedrohenden Naturkräfte zu reduzieren, die für die Infrastrukturanlagen wie auch für die Schutzwälder eine Gefahr darstellen: Fluss- und Bachverbauungen wehren die meisten Hochwasser ab, Lawinenverbauungen verhindern das Abgleiten von Schneemassen und Waldbrände werden so gründlich eingedämmt, dass sie in der Regel nur kleinflächig bleiben. Einzig gegen Stürme ist der Mensch machtlos.
Die enormen Kräfte dieser Ereignisse stellen für die Natur allerdings keine Katastrophe dar, selbst wenn die betroffenen Flächen dadurch massiv verändert werden. Verschiedene Arten beginnen sofort, diese stark umstrukturierten, neu entstandenen Lebensräume der frühen Sukzessionsstadien zu besiedeln. Unter ihnen sind diverse Pionierarten, die stark darunter gelitten haben, dass spätestens ab dem 20. Jahrhundert die relativ strikte Landschaftsgestaltung durch den Menschen gegenüber den Unwägbarkeiten der Natur mehr und mehr dominierte.
Neues Leben nach dem Feuer
Waldbrände entstehen durch Blitzschlag oder menschliches Fehlverhalten; sie kommen vor allem in den Zentral- und Südalpen vor, speziell im Tessin, aber auch im Wallis und in Graubünden. Seit dem 20. Jahrhundert wurden hier 160 Brände mit mindestens 100 ha Schadensfläche registriert. In den letzten 20 Jahren hat ihre Häufigkeit aber deutlich abgenommen, denn es gab nur noch 13 solche Fälle. Zwei dieser Waldbrandflächen wurden ornithologisch untersucht: jene von Leuk VS, wo am 13. August 2003 zwischen 800 und 2100 m Höhe 310 ha Wald und Magerwiesen verbrannten, und jene von Visp VS vom 26. April 2011 mit 130 ha zerstörtem Wald zwischen 650 und 1520 m.
Die Waldbrandfläche von Leuk liefert aufgrund ihrer Ausdehnung und Exposition, aber auch dank der Langfristigkeit und Vielfalt der dort durchgeführten biologischen Studien die bemerkenswertesten Erkenntnisse. Zwar belegen diese, wie auch jene der Fläche von Visp, die vorübergehend katastrophalen Folgen für die örtliche Waldavifauna, aber erstmals in Mitteleuropa zeigen sie auch die überaus positive Wirkung für anspruchsvolle Arten der Roten Liste und der Liste der Prioritätsarten. Ein Befund zeigte sich schon sehr bald: Das Nebeneinander von nackten Bodenstellen und einjährigen Pflanzen mit einem reichen Samenangebot rund um geschwärzte Baumstämme mit zahllosen Sitzwarten und vielen Höhlen schafft Brutplätze und Nahrung für eine Reihe unterschiedlichster Vogelarten (bis zu 50 Arten 2016). Ein erstes Maximum bei der Revierdichte wurde nach fünf Jahren erreicht. Mit dem natürlichen Sukzessionsverlauf, in dessen Rahmen Laubhölzer die vor dem Brand dominierenden Waldföhren und Fichten ersetzten, änderte sich auch die Zusammensetzung der Brutvogelwelt. Nacheinander folgten die Dominanzperioden von Steinrötel, Gartenrotschwanz, Zippammer, Baumpieper und Steinhuhn, wohingegen die Bestände eigentlicher Waldarten, speziell Berglaubsänger und Amsel, erst langsam wieder zulegten.
In der Waldbrandfläche von Visp herrscht dasselbe kontinentale Klima wie bei Leuk, sie liegt aber am Nord- statt am Südhang. Ähnlich verlief hier insbesondere die Dominanz von Gartenrotschwanz und Zippammer in den ersten Jahren (2012–2015). Im Unterschied zu Leuk fehlten jedoch wärmeliebende Arten wie Steinhuhn und Steinrötel.
Sturmchaos als Neubeginn
Von allen Naturgewalten können Winterstürme in Mitteleuropa am ehesten Spuren im Wald hinterlassen. In den letzten zwei Jahrhunderten sind jedoch nur sechs solche Ereignisse als katastrophal eingestuft worden, darunter die beiden Orkane «Vivian» vom 26. bis 28. Februar 1990 mit 5 Millionen m3 und «Lothar» vom 26. und 27. Dezember 1999 mit 12,5 Millionen m3 Schadholz oder rund 3 % des Schweizer Gesamtholzvorrats. Bei «Lothar» lagen die Sturmflächen vor allem im Mittelland und in den Voralpen, bei «Vivian» in den Alpen und Voralpen. Meist wurden sie geräumt oder so belassen; das Vorgehen hatte auf die Verjüngungsdichte keinen signifikanten Einfluss. Dagegen beeinflusste die Höhenstufe die Geschwindigkeit der Wiederbewaldung. Einzelne dieser Sturmflächen oder auch solche früherer Ereignisse sind im Verlauf der diversen Sukzessionsstadien ornithologisch überwacht worden. In den ersten Erhebungsjahren ist die Vielfalt der Brutvögel hauptsächlich von Umgebungsfaktoren der untersuchten Fläche wie Region, Höhenstufe oder Exposition abhängig. Diese standortsspezifischen Unterschiede verwischen sich mit der Zeit, denn das Wachstum der Bäume begünstigt verbreitete Waldarten wie Rotkehlchen, Amsel, Singdrossel oder Buchfink, deren Siedlungsdichte stärker von der Waldstruktur abhängig ist.
Die Häufigkeit von Stürmen und Orkanen sowie die entsprechenden Gefahren für den Wald haben in Mittel- und Nordeuropa in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Diese Tendenz dürfte sich fortsetzen. Je nach dem Ausmass solcher Ereignisse könnte sich diese Prognose positiv auf die Vogelwelt auswirken, speziell für jene eher seltenen Arten, die auf ein Mosaik verschiedener Waldstrukturen oder auf lichte Bestände angewiesen sind. Diese Arten sind heutzutage infolge der immer dichteren Waldbestände im Nachteil, könnten aber geeignete Lebensräume rasch besiedeln.
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