Die Mönchsmeise: auf dem Weg zur Aufspaltung?
Von der Weidenmeise gezimmerte Bruthöhle (Bildmitte) in einer geringelten und später zusammengebrochenen Buche im Solothurner Mittelland. © Walter Christen
In der Schweiz kommen zwei Gesangsformen der Mönchsmeise vor. Die Weidenmeise lebt im Jura, in den Voralpen und lokal im Mittelland, die Alpenmeise ist auf die Alpen beschränkt. Da auch die ökologischen Ansprüche voneinander abweichen, könnten sich die beiden Formen mit der Zeit in zwei Arten entwickeln.
Bei vielen Vogelarten, speziell bei Singvögeln, spielt der Gesang bei der Partnersuche eine wichtige Rolle. Er erlaubt es vor allem den Weibchen, Männchen der eigenen Art nicht mit solchen nahe verwandter Arten zu verwechseln. So sehen beispielsweise die beiden Laubsängerarten Zilpzalp und Fitis zwar sehr ähnlich aus, singen aber ganz unterschiedlich. Aus diesem Blickwinkel ist die Vorstellung naheliegend, dass sich Populationen einer Art, die nicht identisch singen, mittel- bis langfristig in zwei oder mehr Arten aufspalten können.
Das wäre auch beim Unterartenkomplex der Mönchsmeise denkbar. Zwei Gesangsformen kommen in der Schweiz vor: Die Weidenmeise brütet im Jura (Poecile montanus salicarius), in den Voralpen und vereinzelt im Mittelland (P. m. rhenanus), wo sie zwischen 800 und 1500 m vor allem Laubwälder, Jungwaldstadien und Auenwälder bewohnt. Die Alpenmeise (P. m. montanus) besiedelt Misch- und Nadelwaldbestände der Alpen, meist zwischen 1300 und 2100 m. Beide Formen sind auf einen ausreichend hohen Anteil an stehendem Totholz für das Anlegen ihrer Nisthöhlen angewiesen. Abgesehen von minimalen Unterschieden bei der Nahrung und der Körpergrösse lassen sich Alpen- und Weidenmeise nur anhand des Gesangs bestimmen. Die Weidenmeise äussert eine Serie von eher langen, leicht absteigenden Tönen («ziüh ziüh ziüh ziüh»), wogegen der Gesang der Alpenmeise aus meist kurzen, gleich hoch bleibenden Pfeiftönen besteht («dü dü dü dü dü»). Die Verbreitung dieser Gesangsformen in der Schweiz und das Vorkommen von zwei Kontaktzonen in unserem Land und einer weiteren in Bayern sind bereits 1962 beschrieben worden. Später hat man in den Freiburger Voralpen, in Savoyen, im Allgäu, in den österreichischen Alpen sowie in den Gebirgen Bulgariens weitere Kontaktzonen gefunden. In der Schweiz sind die beiden Gesangsformen bisher nie separat erfasst worden. Der Atlas 2013–2016 liefert nun erstmals einen Überblick ihrer Vorkommen.

Verbreitung von Alpenmeise (violett) und Weidenmeise (grün) in der Schweiz in den Jahren 2013–2016. Atlasquadrate (10 × 10 km), in denen beide Gesangsformen nachgewiesen wurden, sind gelb gefärbt.
Die Verbreitungsgebiete überschneiden sich
Interessanterweise haben sich die von W. Thönen beschriebenen Brutgebiete der beiden Gesangsformen seit mehr als einem halben Jahrhundert kaum verändert. Nur konnten sie jetzt erstmals genau modelliert und quantifiziert werden. Die eng an die Alpen gebundene Alpenmeise erreicht in einigen Regionen hohe Dichten. Die Weidenmeise ist im Jurabogen und in den Voralpen sowie in einzelnen Gebieten im Mittelland und im St. Galler und Bündner Rheintal vertreten, allerdings in deutlich geringerer Dichte. Kontaktzonen gibt es in den Voralpen der Kantone Freiburg, Bern, Obwalden und Luzern, im Alpstein und im Rheintal zwischen Ilanz GR und Altstätten SG. Hingegen liess sich der Verdacht über ein Vorkommen der Alpenmeise im Jura nicht bestätigen.
Die Weidenmeise in den Voralpen zeigt zwei Besonderheiten: Sie nutzt dort ähnliche Lebensräume wie die Alpenmeise. Zudem tritt sie lokal in relativ hoher Dichte auf, trotz der grossen Distanz zu ihrem Verbreitungszentrum im Jura. Wie lässt sich das erklären? Wir vermuten, dass die Alpenmeisen dieser Region den Gesang der Weidenmeise angenommen haben, entweder durch Erlernen oder durch Genfluss (d.h. durch Austausch genetischen Materials zwischen zwei Populationen). Diese aufgrund der heute verfügbaren Informationen etwas kühne Hypothese müsste mit vertieften Studien überprüft werden.

Bestandsanteil pro Höhenstufe der Mönchsmeise in der Schweiz in den Jahren 2013–2016. Die Dichte der Weidenmeise (grün) ist im Vergleich mit jener der Alpenmeise (violett) deutlich geringer.
Weiterführende Untersuchungen wünschbar
Die bisher zusammengetragenen Daten sorgen für eine einigermassen klare Vorstellung der Verbreitung und der Bestandsgrösse von Alpen- und Weidenmeise in der Schweiz. Die Unterscheidung der beiden Gesangsformen erlaubt es, die Entwicklung der Teilpopulationen separat zu verfolgen. Das ist schon allein wegen des zumindest in den Tieflagen eher negativen Bestandstrends der Weidenmeise interessant.
Weil sich offenbar die meisten Alpen- und Weidenmeisen untereinander am Gesang nicht als Artgenossen erkennen, könnte man annehmen, dass die beiden Gesangsformen auf dem Weg zur Aufspaltung in zwei Arten sind, wie dies bereits Thönen vermutet hat. Allerdings deutet das gelegentliche Auftreten von
Mischsängern – Thönen selber gibt fünf Fälle an – darauf hin, dass die reproduktive Isolation (d.h. die Unterbrechung des Genflusses zwischen Populationen der ursprünglich selben Art) noch längst nicht abgeschlossen ist. Weil wir jetzt die genauen Verbreitungsgebiete der beiden Gesangsformen kennen, liessen sich ergänzende Untersuchungen zum Status der zwei Formen planen. Dabei könnte man bei Vögeln aus den Kontaktzonen beider Gesangsformen den Grad der Trennung der Unterarten mit modernen populationsgenetischen Methoden analysieren. Bei den bisher in dieser Richtung unternommenen Studien wurde die Auswertung nie weit genug vorangetrieben, um an diese Informationen heranzukommen. In einem zweiten Schritt könnten Untersuchungen zur Vererbung und zum Erlernen des Gesangs durchgeführt werden, um die Dynamik der Trennung der zwei Gesangsformen und ihre weitere Entwicklung besser zu verstehen. Es scheint, dass der Gesang weitgehend angeboren ist. Aber um diese Vermutung zu stützen, wären zusätzliche Experimente erforderlich.
Der Verwandtschaftskomplex der Mönchsmeise ist eines der wenigen Beispiele, an dem man im Alpenraum die Artbildung studieren kann. Es ist zu hoffen, dass der Atlas 2013–2016 als Basis für zukünftige Forschungsarbeiten dient, die vielleicht einige der zahlreichen Fragen rund um unsere Mönchsmeisenpopulationen beantworten werden.

Die Sonagramme zeigen die Unterschiede zwischen den zwei Gesangsformen klar auf: oben die Reihe von meist kurzen, gleich hoch bleibenden Pfeiftönen der Alpenmeise («dü dü dü dü dü»), unten die weniger klaren, längeren und leicht absteigenden Töne der Weidenmeise («ziüh ziüh ziüh ziüh»).
© Sonagramme: A. Bossus, Aufnahmen: F. Charron.Amann, F. (1954): Neuere Beobachtungen an Weiden- und Alpenmeisen, Parus atricapillus, mit vergleichenden Angaben über die Nonnenmeise, Parus palustris. Ornithol. Beob. 51: 104–109.
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