Kiesgruben – Zufluchtsorte für vertriebene Arten

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Die Kombination aus vegetationsfreien Kiesflächen und offenem Wasser bildet trotz Baumaschinen einen geeigneten Ersatzlebensraum für den Flussregenpfeifer. © Bertrand Posse

Kiesgruben sind eine Bereicherung in der Agrarlandschaft und als Pionierstandorte für Vögel oft von grosser Bedeutung. Uferschwalbe und Flussregenpfeifer haben wegen des Fehlens oder des Verlusts ihrer ursprünglichen Lebensräume eine enge Bindung an diese künstlichen Habitate entwickelt, deren Existenz allerdings ebenfalls in Gefahr ist.

Unsere Kiesgruben verdanken ihr verstärktes Aufkommen der Zwischenkriegszeit, als der Bedarf an Beton und Baumaterial für das Strassennetz spürbar zunahm. Ihre Blütezeit erlebten sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Kiesgruben bestehen im Prinzip zuoberst aus einer Schicht Feinerde und darunter aus einem Kieshorizont, der mit dem fluktuierenden Grundwasserspiegel in Kontakt steht.

Oasen für die Biodiversität

Vielen Auen- und Feuchtgebietsarten unter den Vögeln, Amphibien, Libellen, Heuschrecken und Pflanzen war durch die umfangreichen Meliorationsprojekte in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein grosser Teil ihrer Lebensräume genommen worden. Für sie war daher das Aufkommen dieser künstlichen Habitate von grosser Bedeutung. Die Ausbeutung der Kiesgruben mit Baumaschinen sorgt für eine periodische Umgestaltung des Bodens und verhindert das Verlanden. Die obersten Hangpartien aus kiesfreiem Bodenmaterial werden dagegen in Ruhe gelassen. Dort können sich deshalb Brachflächen, Büsche, Nieder- und Baumhecken entwickeln, die nach wenigen Jahren das Strukturangebot und den Wert dieses Landschaftsmosaiks auf mehreren Hektaren Fläche zusätzlich bereichern. Der oft enorme Kontrast zur Agrarlandschaft ringsum macht aus den Kiesgruben wahre Lebensraumoasen.

Bedeutung für die Vögel

Diese Oasen dienen nicht nur als Rastplätze von regionaler Bedeutung für zahlreiche Durchzügler (v.a. Limikolen), sondern bedrohte Brutvogelarten finden hier auch Ersatzlebensräume für die Jungenaufzucht. Weil unseren Flüssen vom Hochwasser freigelegte Kiesbänke fehlen, konzentriert sich in Kiesgruben ein Drittel der Brutplätze des Flussregenpfeifers. Bei der Uferschwalbe sind es sogar praktisch alle, denn wegen der fehlenden Gewässerdynamik können heute an den Flüssen keine natürlichen sandigen Steilwände mehr entstehen. 

Kiesgruben (gelb) sind zwar in der Schweiz recht zahlreich, aber nur wenige von ihnen beherbergen Flussregenpfeifer (schwarz) oder Uferschwalben (grün). Von diesen zwei Arten ist die Uferschwalbe heutzutage am stärksten an Kiesgruben gebunden. Der Flussregenpfeifer brütet gerne auch in anderen Lebensräumen.

© Quelle: swisstopo

Mehrere Kiesgruben dienen sogar als Brutplätze für den Eisvogel oder den noch seltenen Bienenfresser, der sich in der Schweiz seit seiner ersten Brut 1991 aber immer mehr ausbreitet. 

Entwicklung der Anzahl Brutplätze (Säulen) und Brutpaare (Linien) des Bienenfressers in der Schweiz 1990–2016.

Je nach Region und örtlichen Umständen kann das Artenspektrum auch durch Spezialisten von Brachen und niedrigem Gestrüpp erweitert werden, die sonst eher offene Lebensräume vorziehen, wie etwa Schwarzkehlchen, Dorngrasmücke, Orpheusspötter, Neuntöter oder Bluthänfling. Mangels besserer Alternativen sind die Kiesgruben so zu Ersatzlebensräumen für Pionierarten von Auen- und Ackerlandschaften geworden.

Eine Kiesgrube mit einer offenen Wasserfläche und einer sandigen Steilwand mit einer Uferschwalbenkolonie. Darüber liegt eine steile Böschung mit Brachvegetation für Pionierarten des Kulturlands wie Schwarzkehlchen oder Dorngrasmücke.

© Quelle: Bernard Lugrin

Gefahren und Schutzmassnahmen

Sicherheit gehört nicht zwangsläufig zum Angebot dieser Oasen für ihre Gäste. Einerseits finden die Ausbeutungsarbeiten das ganze Jahr über statt, andererseits tragen die seit den Neunzigerjahren verschärften Sicherheitsvorschriften und der erhöhte wirtschaftliche Druck zu verkürzten Konzessionsperioden und zur rascheren Wiederherstellung der ursprünglichen Landschaft bei. Ohne ausdrückliche Absprachen mit den Abbauunternehmen und ohne umfassende Begleitung der Arbeiten im Gelände ist die Gefahr gross, dass Bruten von Flussregenpfeifer, Uferschwalbe oder Bienenfresser durch den täglichen Maschineneinsatz oder den Vortrieb von Abbaufronten zerstört werden. Im Gespräch mit den Kiesgrubenbetreibern ist es dagegen möglich, für Uferschwalben geeignete Sandsteilwände zu schützen oder sogar zu schaffen. Schwieriger ist die Situation bei den Nestern des Flussregenpfeifers, weil sie im Kies praktisch unsichtbar sind und durch den Betrieb auch noch stark gestört werden. Selbst wenn man diese Verluste durch Schutzzonen und gute Information der Arbeiter verhindern kann, gehen die Bruten dann doch häufig durch Fressfeinde verloren, vor allem auf planierten Kiesflächen. Deshalb dürfte der Bruterfolg des Flussregenpfeifers in Kiesgruben eher gering ausfallen.

Wie sieht die Zukunft dieser bedrohten Oasen aus?

Mit dem Ende der Ausbeutung verbessert sich die Situation leider nicht unbedingt. Früher blieb eine Kiesgrube dann meist brach liegen, verbuschte und verlor so ihren Wert als Lebensraum für Pionierbesiedler. Einige Kiesgruben wurden allerdings zugunsten der Artenvielfalt weiterhin unterhalten oder als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Heute werden sie systematisch «renaturiert» und wieder an die land- oder forstwirtschaftliche Nutzung zurückgegeben. Die aufgefüllten Flächen büssen ihren Reiz meist sehr rasch ein. In den Fünfzigerjahren gab es in der Schweiz unterhalb von 900 m ungefähr 2000 bewirtschaftete Kiesgruben; 2016 waren es nicht einmal mehr 500. Vor allem die Uferschwalbe hat dafür einen hohen Preis bezahlt.

Deshalb stellt uns der Schutz der von Kiesgruben abhängigen Arten vor neue Herausforderungen. Speziell geht es dabei um die Uferschwalbe, etwas weniger auch um den Flussregenpfeifer. Kiesgruben, in denen diese Arten vorkommen, sollten nicht wieder oder höchstens teilweise aufgefüllt werden, sofern genügend Lebensraum erhalten bleibt. Weiter sollte ihr Unterhalt gemäss den ökologischen Ansprüchen der bedrohten Arten sichergestellt werden. Ausserdem müssen ergänzende Massnahmen eingeleitet werden, um die Abhängigkeit dieser Arten von Kiesgruben zu vermindern. Das könnten massgeschneiderte Ersatzbrutplätze wie Sandhaufen mit passender Materialqualität für die Uferschwalbe oder Gewässerrevitalisierungen sein, die auch dem Schutz anderer gefährdeter Arten dienen.

Text: Bertrand Posse


Zitiervorschlag des Atlas online:
Knaus, P., S. Antoniazza, S. Wechsler, J. Guélat, M. Kéry, N. Strebel & T. Sattler (2018): Schweizer Brutvogelatlas 2013–2016. Verbreitung und Bestandsentwicklung der Vögel in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Schweizerische Vogelwarte, Sempach.

Literatur

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Bachmann, S., B. Haller, R. Lötscher, U. Rehsteiner, R. Spaar & C. Vogel (2008b): Leitfaden zur Förderung der Uferschwalbe in der Schweiz. Praktische Tipps zum Umgang mit Kolonien in Abbaustellen und zum Bau von Brutwänden. Stiftung Landschaft und Kies, Uttigen, Fachverband der Schweizerischen Kies- und Betonindustrie, Bern, Schweizer Vogelschutz SVS/BirdLife Schweiz, Zürich, und Schweizerische Vogelwarte, Sempach.

Rnjakovic, A. (2014): Favoriser la reproduction du Petit Gravelot dans les gravières et les carrières. Document à l’attention de l’industrie suisse du gravier et du béton. ASPO/BirdLife Suisse, Cudrefin, Nos Oiseaux, Montmollin, Station ornithologique suisse, Sempach, et Association suisse de l'industrie des graviers et du béton, Berne.

Schmid, H., M. Leuenberger, L. Schifferli & S. Birrer (1992a): Limikolenrastplätze in der Schweiz. Schweizerische Vogelwarte, Sempach.

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Schmid, H., R. Luder, B. Naef-Daenzer, R. Graf & N. Zbinden (1998): Schweizer Brutvogelatlas. Verbreitung der Brutvögel in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 1993–1996/Atlas des oiseaux nicheurs de Suisse. Distribution des oiseaux nicheurs en Suisse et au Liechtenstein en 1993–1996. Schweizerische Vogelwarte/Station ornithologique suisse, Sempach.

Schmit, F. (2016): Ersatz für den Ersatz: Künstliche Sandschüttungen für die Uferschwalbe. Ornis 2016/6: 12–15.

Sticher, H. (1984a): Exploitation de gravier et agriculture à l'exemple du canton d'Argovie. Société suisse de pédologie, Document 1. Juris Verlag, Zurich.

Sticher, H. (1984b): Kiesabbau und Landwirtschaft am Beispiel des Kantons Aargau. Bodenkundliche Gesellschaft der Schweiz, Dokument 1. Juris Verlag, Zürich.

 

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