FILTERN

Filtern nach
Brutvögel

Standortvorteil Schweiz?

Die Brutvögel Europas stehen unter Druck. Schätzungen zufolge leben heute über eine halbe Milliarde weniger Vögel auf dem Kontinent als noch 1980, was einem Rückgang von rund 18 % des Brutvogelbestands entspricht. Noch deutlich stärker zurückgegangen sind die Bestände bei typischen Kulturlandarten. Im Gegensatz dazu haben sich die Schweizer Brutvogelbestände in den letzten 30 Jahren leicht positiv entwickelt. Auch einige Kulturlandarten zeigen eine Tendenz zur Bestandserholung. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in den tieferen Lagen einige ehemals typische Arten grossräumig verschwunden sind.

Landwirtschaft und Urbanisierung als Haupttreiber

Eine kürzlich erschienene Studie mit Beteiligung der Vogelwarte benennt die Ursachen dieses europaweiten Biodiversitätsverlusts. Die Bestandsentwicklungen in 28 Staaten zeichnen ein deutliches Bild: Die Intensivierung der Landwirtschaft wurde als stärkster Treiber für negative Trends identifiziert, gefolgt von der zunehmenden Urbanisierung. Dabei beschränken sich die Auswirkungen von Landwirtschaft und Urbanisierung nicht nur auf die typischen Arten dieser Lebensräume, sondern betreffen insbesondere Langstreckenzieher, und allgemein Arten, die während der Jungenaufzucht auf Insekten angewiesen sind. Es liegt nahe, dass neben den direkten Auswirkungen von Lebensraumverlust auch indirekte Faktoren wie die Verringerung von Nahrungsgrundlagen oder die Belastung mit Pestiziden der Avifauna des Kontinents zusetzen.

Entwicklung in der Schweiz

Vergleicht man die Bestandsentwicklungen innerhalb Europas, fällt die Schweiz auf den ersten Blick positiv auf. Die verschiedenen Indikatoren des Swiss Bird Index zeigen durchwegs positivere Entwicklungen als ihre europäischen Pendants. So sank etwa der «SBI® Regelmässige Brutvögel» bis Anfang der 2000er- Jahre parallel zum europäischen «Common Breeding Bird» Index, stieg jedoch seither an, während der europäische Index weiterhin rückläufig ist. Bei 65 % der 108 Arten, die in beiden Indizes vertreten sind, sind die kurzzeitigen Trends (2013– 2022) in der Schweiz positiver als in Gesamteuropa. Von den 50 Arten, deren Bestände in diesem Zeitraum gesamteuropäisch abnahmen, weisen gar 32 in der Schweiz einen positiven Trend auf. Darunter sind auch Kulturlandarten wie Neuntöter und Wendehals. Wie ist es möglich, dass viele Arten in einem dicht besiedelten und landwirtschaftlich intensiv genutzten Land wie unserem den grossräumigen Abnahmen zu trotzen scheinen?

Förderung und Neuankömmlinge wirken negativem Trend entgegen

Die Ursachen für die Diskrepanz zwischen den Trends in Europa und in der Schweiz sind vielschichtig. Viele Arten erlitten im Verlauf des 20. Jahrhunderts dramatische Bestandsrückgänge oder sind inzwischen vollständig verschwunden. Beispiele hierfür sind Rotkopfwürger, Rebhuhn und Ortolan. Während diese Arten nach ihrem Verschwinden nicht mehr weiter zu den Bestandsentwicklungen beitragen, sind die gesamteuropäischen Bestände dieser Arten weiter rückläufig. Gleichzeitig erholen sich heute bei uns einige Arten dank Schutzbemühungen wieder (z. B. Weissstorch, Dorngrasmücke) oder siedeln sich im Zuge wärmerer Temperaturen erstmals in nennenswerter Zahl bei uns an (z. B. Bienenfresser). Was als positive Gesamtentwicklung erscheint, beruht daher teilweise auf einem Austausch von Arten, im Rahmen dessen viele Bestände auf ein tiefes Niveau sanken, während andere stark wuchsen (z. B. Saatkrähe, Rotmilan).

Positive Entwicklung vor allem in der Höhe

Gerade in der Alpenregion erwärmt sich das Klima überdurchschnittlich stark. Dies dürfte vielen Arten des Tieflands eine Besiedlung von höher gelegenen Flächen ermöglichen, die früher von den entsprechenden Arten nicht oder nur in geringerer Dichte genutzt wurden. Für Kulturlandarten kommt dazu, dass hochgelegene Standorte noch nicht so intensiv bewirtschaftet werden wie tiefere Lagen. Dies zeigt sich unter anderem in den Daten des «Monitoring Häufige Brutvögel»: 60 % der 97 Arten, die über einen Höhengradienten von mindestens 1000 Metern nachgewiesen wurden, haben in höher gelegenen Gebieten positivere Entwicklungen als in tieferen Lagen. In diesem Set enthalten sind auch 19 Kulturlandarten, von denen 13 in der Höhe positivere Trends aufweisen, beispielsweise Bachstelze oder Braunkehlchen. Zugewinne in der Höhe können teilweise stark negative Trends im Mittelland kompensieren, was die gesamtschweizerische Entwicklung stabilisiert.

Die Alpen als Refugium

Zum Ende der letzten Eiszeit vor rund 12 000 Jahren waren die Tieflagen Europas von Tundra geprägt. Als sich die Landschaft wandelte und für Alpenschneehuhn und Co. unbewohnbar wurde, fanden solche Arten im Hochgebirge ein Refugium, in dem sie sich bis heute halten konnten. Heute stehen die Brutvögel Europas vor einer ähnlichen Situation. Für viele Arten führ(t)en menschliche Aktivitäten zu grossräumigen Verlusten von Bruthabitaten. Die Klimaveränderung ermöglicht es einigen Vogelarten, höhere Lagen mit ihren oft noch etwas naturnäheren Lebensräumen neu oder in höheren Dichten als bisher zu besiedeln. Aufgrund fehlender Gebirge ist eine solche Besiedlung höherer Lagen in grossen Teilen Europas aber nicht möglich. Bergregionen tragen daher eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Biodiversität, nicht nur für alpine Arten, sondern vermehrt auch für Arten des Tieflands. Ob die Alpen auch im Anthropozän als Refugium dienen werden, hängt auch davon ab, wie wir diese Verantwortung wahrnehmen. Schreiten der Klimawandel und die Intensivierung auch im Berggebiet weiter voran, werden in Zukunft wohl wieder vermehrt Rückgänge zu verzeichnen sein.

Literaturhinweise
Rigal, S. et al. (2023): Farmland practices are driving bird population decline across Europe. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120(21), e2216573120.

Situation der Vogelwelt

Zustandsbericht 2024

In der Publikation «Zustand der Vogelwelt in der Schweiz» fasst die Vogelwarte jährlich die neuesten Erkenntnisse aus ihren Überwachungsprojekten zusammen, an denen über 2000 freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Landesregionen beteiligt sind. Der Bericht 2024 beleuchtet unter anderem Möglichkeiten zur Förderung der Vielfalt im Kulturland. Weiter wird die Rolle der Alpen als Arche des Anthropozäns illustriert.

Mehr erfahren