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© Marcel Burkhardt

Der Waldlaubsänger passt mit seinem gelbgrünen Gefieder farblich perfekt zu den Wäldern, die er bewohnt.

News - Hintergrund

Von Mäusen, Samen und Waldlaubsängern

April 2024

Seit 2010 untersucht die Vogelwarte die Ökologie des gefährdeten Waldlaubsängers. Zunächst standen die Habitatansprüche im Zentrum, in letzter Zeit wurden vermehrt die Auswirkungen der unregelmässig auftretenden Samenmasten im Ökosystem Wald untersucht.

In unseren Wäldern kommt es in unregelmässigen Abständen zu einer Samenmast von Buchen, Eichen und weiteren Baumarten. In kurzer Zeit steht so eine grosse Menge an Nahrung für verschiedenste Tiere zur Verfügung. Dazu zählen auch Waldmäuse, die nach einer herbstlichen Samenmast im folgenden Frühling überdurchschnittlich häufig sind.

Mehr Mäuse, weniger Waldlaubsänger

Bereits 1949 schrieb Fritz Amann im Ornithologischen Beobachter, dass sich in solchen mausreichen Jahren sehr wenige Reviere des Waldlaubsängers finden liessen, während dieser im gleichen Waldgebiet schon ein Jahr später wieder deutlich häufiger anzutreffen war. Dieses Muster wurde inzwischen in mehreren Studien bestätigt. Lange vermutete man, dass der bodenbrütende Waldlaubsänger Gebiete mit vielen Mäusen meidet, um Nestraub durch Mäuse und dadurch hervorgerufene Brutverluste zu reduzieren. Unsere Untersuchungen im Schweizer Jura, bei Marburg in Hessen und im polnischen Białowieża-Nationalpark sowie Studien aus England und Wales unterstützen diese Vermutung allerdings nicht.

Obwohl insgesamt die Hälfte der Bruten von über 600 mit Kameras überwachten Nestern erfolglos blieben, fielen nur sehr wenige den Mäusen zum Opfer. Dies könnte daran liegen, dass Waldlaubsänger, falls sie sich überhaupt ansiedeln, kleinräumig Orte wählen, wo es weniger Waldmäuse hat. Als Nesträuber weitaus bedeutender waren Eichelhäher, Marder und Rotfuchs. Sie waren zusammen für fast 60 % aller ausgeraubten Nester verantwortlich, wobei deren Bedeutung von Gebiet zu Gebiet variierte. In Jahren mit vielen Mäusen stellten wir im Schweizer Jura zudem eine erhöhte Aktivität von Mardern und Rotfüchsen fest, die entsprechend häufiger als Nesträuber auftraten. Unter dem Strich waren sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem Nest Jungvögel ausfliegen, als auch die Anzahl ausfliegender Jungvögel in Mausjahren deutlich tiefer als in anderen Jahren. Dass Waldlaubsänger in mausreichen Jahren seltener brüten und kleinräumig mausreiche Gebiete meiden, ist demnach sinnvoll, aber offenbar nicht einem direkten Einfluss der Mäuse auf den Waldlaubsänger zuzuschreiben.

Häufigere Samenmast führt zu Bestandsrückgang

In einigen Gebieten Europas häuften sich bei einigen Baumarten die Samenmasten in den letzten 20 Jahren, und es werden auch in Nicht-Mastjahren mehr Baumsamen produziert. Dies ist unter anderem auf den Klimawandel zurückzuführen. Könnte es also sein, dass der Waldlaubsänger nun immer öfter ungünstige Brutbedingungen vorfindet und so nicht mehr genügend Nachwuchs produziert, um den Bestand zu erhalten? Um diese Fragen zu beantworten, modellierten wir die Wachstumsraten von Waldlaubsängerpopulationen auf der Basis hunderter Nester aus Deutschland, Polen und der Schweiz. Die Resultate zeigten tatsächlich, dass Populationen in Wäldern mit häufigen Samenmasten abnahmen, während solche in Wäldern mit grösseren Abständen zwischen den Samenmasten stabil waren. Dies bedeutet, dass Veränderungen eines natürlichen Vorgangs (Samenmast), hervorgerufen unter anderem durch den Klimawandel, die Bestandsentwicklung des Waldlaubsänger und wohl auch anderer Arten zu beeinflussen scheint.

Reges Kommen und Gehen

Der Waldlaubsänger gilt als Nomade, weil sowohl Jung- als auch Altvögel kaum je in ihre Schlupf- bzw. Brutreviere zurückkehren. Diese mit Beringung gewonnene Erkenntnis wurde in verschiedenen Ländern festgestellt und hängt wohl mit den zuvor erläuterten Auswirkungen von Samenmasten zusammen. Neu stellten wir hingegen fest, dass auch innerhalb einer Brutsaison in einem Revier ein reges Kommen und Gehen herrscht, und dass dieser «saisonale Nomadismus» der Männchen von den Weibchen hervorgerufen wird. Wurde ein Männchen von keinem Weibchen als Partner ausgewählt, verliess es sein Gesangsrevier innert Tagen bis wenigen Wochen. Am selben Ort sang schon wenig später wieder ein anderes Männchen. Ohne die individuelle Markierung mit einem Ring hätte dieser Wechsel nicht bemerkt werden können. Die Anwesenheit eines paarungsbereiten Weibchens war für die Männchen auch nach der Verpaarung wichtig. Bebrüteten Weibchen ihre Gelege, versuchte knapp ein Viertel der verpaarten Männchen in einem zweiten Revier die Gunst eines anderen Weibchens zu gewinnen. Und wanderte ein Weibchen nach der ersten Brut schliesslich ab, tat es sein Männchen ebenfalls– unabhängig davon, ob die Brut erfolgreich gewesen war oder nicht. Die Weibchen treffen beim Waldlaubsänger demnach die wichtigen Entscheidungen!

Erkenntnisse für den Artenschutz

Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Waldlaubsänger bevorzugt in mittelalten Laubmischwäldern mit weitgehend geschlossenem Kronendach und einem lückigen Stammraum siedelt. Der Boden ist mässig mit grasartiger Vegetation bedeckt, Sträucher und Jungbäume kommen selten vor. Deshalb ist der Waldlaubsänger stark betroffen vom übermässigen Stickstoffeintrag in die Wälder. Dadurch wachsen diese für den Waldlaubsänger wichtigen offenen Bereiche immer stärker zu. Diese Erkenntnisse mündeten in ein Artenförderungsprojekt für den Waldlaubsänger. Gemeinsam mit Forstbetrieben und Waldbesitzerinnen und Waldbesitzern wurden in den Kantonen Basel-Landschaft und Solothurn geeignet erscheinende Waldflächen ausgesucht, um die Art durch gezielte waldbauliche Massnahmen, wie der Entfernung der Strauch- und Unterschicht, auf diesen Flächen zu fördern. Diese Massnahmen wirkten: Sowohl die Anzahl der Reviere als auch die Anzahl der Nester nahm zu. Dies ist eine erfreuliche Nachricht, denn der Waldlaubsänger gilt mittlerweile als «verletzlich» und sein Bestand ist in den letzten zehn Jahren um die Hälfte eingebrochen. Der Waldlaubsänger ist also dringend auf Förderung angewiesen, wenn er langfristig in der Schweiz überleben soll.