Der Grund liegt in der Auffassung des Begriffs «Art». Es gibt keine allgemeingültige Definition, deshalb spricht man von «Artkonzepten». Es gibt über 20 verschiedene Artkonzepte, die alle einen unterschiedlichen Fokus haben. Am häufigsten verwendet wird das biologische Artkonzept. Es besagt, dass sich nur Individuen miteinander fortpflanzen können, die zur selben Art gehören, nicht aber Individuen, die zu unterschiedlichen Arten gehören. Populationen werden also «schubladisiert» und klar einer Art zugewiesen. Artbildung geschieht aber nicht plötzlich, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess, der sich bei Vögeln über Hundertausende bis Millionen von Jahren hinzieht. Spalten sich also zwei Populationen derselben Art voneinander ab und sind auf dem Weg zur Artbildung, gibt es immer einen Zeitraum, in dem eine erfolgreiche Fortpflanzung der beiden Populationen noch möglich ist. Dann ist das biologische Artkonzept nur bedingt anwendbar.
Im Krähenbeispiel ist der Unterschied im gesamten Erbgut nicht grösser als ein halbes Prozent. Raben- und Nebelkrähe sind genetisch also praktisch identisch und können sich untereinander fortpflanzen. Aber die Färbung ist sehr unterschiedlich, zudem haben Studien gezeigt, dass sich Nebelkrähen bevorzugt mit Nebelkrähen fortpflanzen und Rabenkrähen bevorzugt mit Rabenkrähen. Ob die beiden Krähen nun als eine Art oder zwei Arten betrachtet werden sollen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Für die Beurteilung werden Genetik, Färbung, Physiologie und Paarungsverhalten berücksichtigt. Die IOC-Liste kommt zum Schluss, dass es sich bei Rabenkrähe und Nebelkrähe um zwei Arten handelt, die BirdLife-Liste hingegen nicht.
Bei einer Artabgrenzungen handelt es sich also immer um eine Beurteilung des aktuellen Wissensstands. Weil Artkonzepte menschengemachte Konstrukte sind und Artbildung ein kontinuierlicher Prozess ist, besteht immer ein Interpretationsspielraum. Wichtig ist, dass neue Forschungserkenntnisse immer wieder in die Beurteilung einfliessen. Diese Erkenntnisse können die Beurteilung ändern, was schlussendlich zu Änderungen in einer Artenliste führt – und wir uns wieder mit neuen Namen und Bestimmungskriterien auseinandersetzen müssen.