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News - Hintergrund

Warum werden Artenlisten immer wieder angepasst?

April 2024

Wie viele Vogelarten brüten in der Schweiz? Wie viele davon stehen auf der Roten Liste? Um diese Fragen zu beantworten, muss man zuerst definieren, was eine Art ist. Regelmässige Änderungen in Artenlisten führen dabei zu Unverständnis. Sie sind aber notwendig, um das aktuelle Wissen möglichst korrekt wiederzugeben.

Vor einigen Jahrzehnten war die Möwenwelt in der Schweiz noch ziemlich in Ordnung: Es gab nur eine Grossmöwe mit hellgrauem Mantel, die Silbermöwe. Später wurde sie in zwei Arten aufgeteilt, neben der Silbermöwe gab es nun auch die Weisskopfmöwe. Doch auch dabei blieb es nicht, die Weisskopfmöwe wurde noch einmal in zwei Arten getrennt. So sind wir heute in der Schweiz bei drei Grossmöwen mit hellgrauem Mantel: Silbermöwe, Mittelmeermöwe, Steppenmöwe.

Auch wenn die Unterscheidung dieser drei Arten viel Mühe bereitet und wohl einige es lieber bei der Silbermöwe belassen hätten: Aus evolutionsbiologischer Sicht ist es korrekt, dass es nun drei Arten gibt. Doch wer entscheidet überhaupt, was eine Art ist und wie viele Arten es gibt?

Es gibt weltweit vier grosse Listen, die alle Vögel der Erde katalogisieren. Bislang folgte die Vogelwarte der Liste von BirdLife International. Diese konnte sich aber nie richtig durchsetzen, ausserdem berücksichtigt sie genetische Erkenntnisse nicht. Deshalb folgt die Vogelwarte per 2024 der Liste des International Ornithological Congress (IOC) (www.worldbirdnames.org). Dies hat einige Änderungen in der Schweizer Artenliste zur Folge. In der IOC-Liste werden beispielsweise Raben- und Nebelkrähe als eigene Arten aufgeführt, während sie bei BirdLife International zwei Unterarten einer Art sind, der Aaskrähe. Aber wieso kommen IOC und BirdLife International im Fall der Krähen zu einer unterschiedlichen Beurteilung?

Der Grund liegt in der Auffassung des Begriffs «Art». Es gibt keine allgemeingültige Definition, deshalb spricht man von «Artkonzepten». Es gibt über 20 verschiedene Artkonzepte, die alle einen unterschiedlichen Fokus haben. Am häufigsten verwendet wird das biologische Artkonzept. Es besagt, dass sich nur Individuen miteinander fortpflanzen können, die zur selben Art gehören, nicht aber Individuen, die zu unterschiedlichen Arten gehören. Populationen werden also «schubladisiert» und klar einer Art zugewiesen. Artbildung geschieht aber nicht plötzlich, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess, der sich bei Vögeln über Hundertausende bis Millionen von Jahren hinzieht. Spalten sich also zwei Populationen derselben Art voneinander ab und sind auf dem Weg zur Artbildung, gibt es immer einen Zeitraum, in dem eine erfolgreiche Fortpflanzung der beiden Populationen noch möglich ist. Dann ist das biologische Artkonzept nur bedingt anwendbar.

Im Krähenbeispiel ist der Unterschied im gesamten Erbgut nicht grösser als ein halbes Prozent. Raben- und Nebelkrähe sind genetisch also praktisch identisch und können sich untereinander fortpflanzen. Aber die Färbung ist sehr unterschiedlich, zudem haben Studien gezeigt, dass sich Nebelkrähen bevorzugt mit Nebelkrähen fortpflanzen und Rabenkrähen bevorzugt mit Rabenkrähen. Ob die beiden Krähen nun als eine Art oder zwei Arten betrachtet werden sollen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Für die Beurteilung werden Genetik, Färbung, Physiologie und Paarungsverhalten berücksichtigt. Die IOC-Liste kommt zum Schluss, dass es sich bei Rabenkrähe und Nebelkrähe um zwei Arten handelt, die BirdLife-Liste hingegen nicht.

Bei einer Artabgrenzungen handelt es sich also immer um eine Beurteilung des aktuellen Wissensstands. Weil Artkonzepte menschengemachte Konstrukte sind und Artbildung ein kontinuierlicher Prozess ist, besteht immer ein Interpretationsspielraum. Wichtig ist, dass neue Forschungserkenntnisse immer wieder in die Beurteilung einfliessen. Diese Erkenntnisse können die Beurteilung ändern, was schlussendlich zu Änderungen in einer Artenliste führt – und wir uns wieder mit neuen Namen und Bestimmungskriterien auseinandersetzen müssen.