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News - Hintergrund

Rotmilan: Vom Ausfliegen bis zur Ansiedlung

April 2016

Mit einer fast unvergleichlichen Geschwindigkeit besiedelte der Rotmilan das ganze Schweizer Mittelland und eroberte in den letzten Jahren auch die Lagen oberhalb 800 m ü.M. Wie die attraktive Art dies schafft, ist Gegenstand eines grossen Forschungsprojektes der Schweizerischen Vogelwarte.

Seit den 1970er Jahren besiedelte der Rotmilan rasant das ganze Schweizer Mittelland und eroberte in diesem Jahrtausend die Lagen oberhalb 800 m ü.M. und die grösseren Alpentäler. In den traditionellen Hauptverbreitungsgebieten in Spanien, Frankreich und im Nordosten Deutschlands ist dagegen kein solches Populationswachstum festzustellen. Im Gegenteil: An vielen Orten steigen die Bestände nur leicht oder nehmen sogar ab.

Die Schweiz beherbergt unterdessen wohl schon deutlich mehr als die 2009 geschätzten 1200– 1500 Brutpaare und damit gegen 10 % der Weltpopulation des Rotmilans. Tendenz steigend! Auch als Überwinterungsgebiet ist die Schweiz offenbar attraktiv: Unterdessen überwintern mehr als 2500 Rotmilane in der Schweiz!

Unser Land trägt eine hohe Verantwortung für den Rotmilan. Der Bund attestiert ihm deshalb eine sehr hohe nationale Priorität. Zudem gehört der Greifvogel zu den 50 Prioritätsarten für Artenförderung.

Die Zunahme und die Ausbreitung des Rotmilans dürften mehrere Ursachen haben. Höchstwahrscheinlich verbesserte sich die Nahrungsgrundlage für den Greifvogel seit Mitte des letzten Jahrhunderts erheblich. Einerseits erhöhte die immer frühere und häufigere Mahd und Fruchtfolge die Erreichbarkeit von Beutetieren wie Mäusen und Würmern. Andererseits könnte der Rotmilan als Aasfresser von der zunehmenden Anzahl von im Verkehr verunglückten Tieren profitiert haben. Zudem führten die höheren Temperaturen in den letzten Jahrzehnten zu langen schneefreien Perioden im Mittelland sowie zur frühen Schneeschmelze im Voralpengebiet. Zu guter Letzt profitierte die Art wohl auch von Fütterungsstellen, die vor allem im Winter von Privatpersonen betrieben werden.

Bereits seit 20 Jahren beringen freiwillige Ornithologen in den Kantonen Freiburg und Waadt junge Rotmilane am Horst. Das tönt einfach, ist aber aufwändig. Nachdem die Horststandorte durch lange Verhaltensbeobachtungen gefunden sind, muss das Alter der Jungvögel durch weitere Beobachtungen geschätzt werden. In den Tagen vor dem Ausfliegen wird der Horstbaum erklettert, und die Jungvögel werden vermessen, beringt und danach wieder ins Nest gesetzt. Mit den Jahren wurden auf diese Weise rund 850 Rotmilan-Nestlinge beringt. Mit Hilfe der Beringung und der Erfassung der Jungenzahl während zwei Jahrzehnten können wir wichtige Kennzahlen der Bestandsentwicklung schätzen: Den Bruterfolg und das Überleben. Das ist von unschätzbarem Wert! Dennoch ist weitgehend unklar, wie das Klima und das Nahrungsangebot mit der Verdichtung der Rotmilanbestände im Mittelland und mit der Ausbreitung der Art in höhere Lagen zusammenhängen. Entscheidend für das Verständnis dieser Prozesse sind nämlich nicht nur deren Auswirkungen auf den Bruterfolg und das Überleben, sondern auch auf die Wanderungen (und die Ansiedlung) der Jungvögel.

Das Abwanderungsverhalten von Jungvögeln ist einerseits von deren körperlicher Verfassung, andererseits von der Umwelt abhängig. In dichten Brutbeständen mit guter Nahrungsgrundlage könnten Jungvögel mit guter Kondition einen Vorteil bei der Ansiedlung haben, während sie in lockeren Beständen und schlechteren Habitaten eher abwandern und ihr Glück an besseren Orten suchen. Allerdings interessieren sich in guten Habitaten wegen des hohen Bruterfolgs und des verbesserten Überlebens auch mehr lokale Jungvögel für eine Ansiedlung. Räumliche Unterschiede in Brutdichte und Nahrungsangebot könnten deshalb zu ganz unterschiedlichen Abwanderungsstrategien der Jungvögel führen.

Die Untersuchung der Abwanderungs- und Ansiedlungsgeschichten in Kombination mit Daten zu Bruterfolg und Überleben lässt uns deshalb verstehen, wie die Verdichtung und die Ausbreitung der Schweizer Rotmilanpopulation vor sich gehen. Um vertiefte Einblicke in diese Prozesse zu erhalten, startete die Schweizerische Vogelwarte im Jahr 2015 ein Forschungsprojekt, in dem mehrere Hundert Rotmilane mit GPS-Loggern ausgerüstet werden sollen. Die Untersuchung detaillierter Bewegungen von Vögeln erfährt durch die rasanten technischen Entwicklungen des Ortens neue Möglichkeiten. Mit Hilfe automatischer satellitengestützter Ortungssysteme ist es heute möglich, Vögel in der Grösse von Rotmilanen häufig und genau zu orten. Damit können nun die Wanderungen der Jungvögel untersucht werden. Im Rotmilan- Forschungsprojekt kommen solarbetriebene GPS-Logger zum Einsatz, die sowohl stündliche Ortungen per Handynetz auf einen Server schicken, wie auch die Möglichkeit zum Herunterladen von Zwischenortungen per Funkverbindung bieten. Damit können bei guten Lichtbedingungen Ortungen im 2-Minuten-Takt gewonnen werden. So sollte es möglich sein, die Bewegungen von GPS-besenderten Rotmilanen über mehrere Jahre hinweg sehr genau zu verfolgen. Ausserordentlich spannend dürften die Erkundungsflüge der Jungvögel nach der Unabhängigkeit, die Zugbewegungen, die Raumnutzung von subadulten Nichtbrütern und die Ansiedlungen als Brutvogel sein. Auch Mortalitätsursachen und Überlebensraten von Jung- und Altvögeln sind mit den verwendeten Geräten viel leichter zu eruieren.

Die Überwachung der Bruten wird über zwei Kamerasysteme bewerkstelligt: Im Winter, noch vor der Rückkehr der Rotmilane zum letztjährigen Nest, werden an bekannten Horsten Minikameras installiert, die dank eines Kabels von der Stammbasis aus Einsicht ins Nest ermöglichen. Damit können wir die Gelegegrösse, die Nestlingssterblichkeit und das Alter der Jungvögel bestimmen. Von der Eiablage bis ins Alter von etwa 15 Tagen darf das Brutgeschäft nicht durch Kletteraktionen gestört werden, da sonst die Gefahr einer Brutaufgabe droht. Bewegungsausgelöste Fotofallen zur Bestimmung der Futtermenge und der Art der Nestlingsnahrung werden deshalb erst später an den Nestern angebracht.

Mit den Resultaten aus dem Pilotjahr 2015 gelangen erste Einblicke in die Biologie dieser spannenden Art: Im Freiburger Untersuchungsgebiet stellten wir mittels Revierkartierung eine der höchsten bekannten Brutdichten fest. Allerdings war die Zahl der erfolgreichen Bruten klein, so dass bei lediglich 30 % der anwesenden Paare mindestens ein Junges ausflog. Viele Paare besetzten zwar ein Revier, begannen aber kein Gelege. Unsere Resultate unterstreichen, dass hohe Brutpaar-Dichten nicht mit hohem Bruterfolg einhergehen müssen. Die erfolgreichen Paare blieben mit durchschnittlich 1,4 Jungvögeln unter dem langjährigen Mittel von 1,8 Jungvögeln. Auch das Körpergewicht der Jungvögel bei der Beringung wies unterdurchschnittliche Werte auf. Diese niedrigen Werte kamen durch das Zusammenbrechen der Mäusepopulationen im späten Frühling zustande, was wir durch die Erfassung von Mäusespuren zeigen konnten. Das Ausbleiben der Mahd durch die nasse Witterung Ende April und Anfang Mai erschwerte die Erreichbarkeit der Nahrung zusätzlich.

Trotz des schlechten Bruterfolgs wurden 44 junge Rotmilane aus 31 Nestern mit GPS-Loggern ausgerüstet. Die grösste Sterblichkeit wurde, wie bei vielen Vogelarten, kurz nach dem Ausfliegen festgestellt. Sie war bei Jungvögeln mit unterdurchschnittlichem Gewicht erhöht. Erste Bewegungsdaten liegen vor und können auf unserer Internetseite angeschaut werden (siehe Box). In den nächsten drei Brutsaisons soll die Forschung weitergeführt werden, so dass genügend junge Rotmilane bis zur ersten Brut nach 2–3 Jahren verfolgt werden können, um die Auswirkungen der unterschiedlichen Erkundungsflüge und Zugverhalten untersuchen zu können. Wir sind jedenfalls schon gespannt auf die erste Rückkehr der letztjährigen Jungvögel. Wo werden sie sich im ersten Sommer aufhalten?

Meldeaufruf!

Bitte melden Sie von Ende März bis Ende Juni sämtliche Rotmilan-Beobachtungen oberhalb 1000 m ü.M. möglichst genau auf ornitho.ch. Insbesondere in den Kantonen Bern und Freiburg sind wir für Hinweise zu besetzten Horsten und zu brutverdächtigen Rotmilanen (z.B. Transport von Nistmaterial oder Kopulationen) dankbar.

Highlights und Dämpfer aus dem ersten halben Jahr GPS-Ortung

+ Ein Jungvogel erkundete kurz nach dem Ausfliegen die Walliser Alpen. Er flog unter anderem das Mattertal hinauf und am Matterhorn vorbei wieder zurück ins Rhonetal. Dies zeigt, dass es durchaus möglich ist, auch im alpinen Bereich auf Rotmilane zu treffen.
+ Zwei Jungvögel blieben in der Schweiz und verzichten vollständig auf einen Wegzug. Während einer verstarb, überlebte der andere den Winter an einem Schlafplatz in der Westschweiz.
+ Der schnellste Jungvogel zog in 3 Tagen aus der Schweiz nach Spanien. Zwei Jungvögel zogen weit in den Süden von Portugal!
– Kurz nach dem Ausfliegen ertranken zwei Jungvögel in offenen Jauchesilos und einer kam auf der Autobahn ums Leben.
– Bei zwei ausserhalb der Schweiz tot aufgefundenen Individuen (Frankreich, Spanien) besteht der Verdacht auf illegalen Abschuss.

Im Beitrag erwähnte Vogelarten

Vogelarten
Rotmilan
Der Rotmilan ist nach Bartgeier und Steinadler der drittgrösste einheimische Greifvogel. Die Vögel können stundenlang auf ihren schmalen, langen Flügeln kreisen und steuern dabei unablässig mit dem langen Gabelschwanz. Zur Balzzeit vollführen die Paare richtige Kunstflüge und äussern häufig ein w...
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