Folgerichtig beschäftigt sich die Vogelwarte ab Mitte der 1970er-Jahre auch stärker mit den Lebensbedingungen bedrohter Vogelarten. Im Vordergrund stehen Arten im Kulturland, die von der intensiven Landwirtschaft immer mehr verdrängt werden, also etwa Rebhuhn, Kiebitz, Baumpieper, Feldlerche und Braunkehlchen.
Die Vogelwarte stellt jetzt auch Grundlagen für Naturschutzbehörden bereit. Basierend auf den Ergebnissen der nationalen Wasservogelzählungen inventarisiert sie schweizweit die wichtigsten Überwinterungsgebiete für Wasservögel. Der Bund richtet daraufhin erste Wasservogelreservate ein. Und mit der Inventarisierung der naturnahen Lebensräume des Kantons Luzern schafft die Vogelwarte eine praxisnahe Grundlage für den Naturschutz auf Gemeindeebene.
2003 schliesslich bündeln die Vogelwarte, BirdLife Schweiz und das Bundesamt für Umwelt BAFU ihre Kräfte zur Rettung der bedrohten Vogelwelt und lancieren das Programm «Artenförderung Vögel Schweiz». Auerhuhn, Weissstorch, Steinkauz, Wiedehopf und Mittelspecht und weitere Arten profitieren davon. Neben dem Artenschutz spielt auch der Schutz der Lebensräume eine wichtige Rolle.
Schon ab 1991 wertet die Vogelwarte zusammen mit lokalen Landwirten und den Behörden in verschiedenen Regionen das Kulturland auf, so in der Champagne genevoise oder im Schaffhauser Klettgau. Diese Erfahrungen bereiten den Boden für die beispielhafte Zusammenarbeit mit der fortschrittlichen bäuerlichen Vereinigung IPSuisse. Sie bewirkt, dass viele ökologischen Ausgleichsflächen angelegt werden. Zu Beginn werden die Produkte aus den beteiligten Landwirtschaftsbetrieben vor allem über die Migros abgesetzt. Heute kann man sie bei den meisten Grossverteilern finden. Die Vogelwarte und das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL fassen ihre positiven Erfahrungen in einem Praxishandbuch zusammen, das einen neuen Impuls für mehr Natur aus Bauernhand bringen soll. Dieses Engagement im Kulturland zahlt sich über Jahrzehnte aus: Zahlreiche Kulturlandarten haben in diesen wunderschönen Landschaften höhere Bestände als anderswo, und beide Gebiete wurden von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz zur «Landschaft des Jahres» gewählt, 2013 die Champagne genevoise und 2023 der Klettgau SH. Im Vorfeld ihres 100-jährigen Bestehens schliesslich startet die Vogelwarte ein grosses Rahmenprogramm «Aufschwung für die Vogelwelt» und lädt Partner ein, mit ihr zusammen weiteren Lebensraum für die bedrohte Vogelwelt zu gestalten.
Die Vogelwarte konnte sich in ihren ersten hundert Jahren vom ehrenamtlich geführten Einmannbetrieb zur prosperierenden Stiftung für Vogelkunde und Vogelschutz entwickeln. In der Forschung und im Monitoring von Vogelpopulationen ist sie heute international anerkannt. Künftig werden Erfolge auch aus den ökologischen Langzeitstudien und aus Afrika kommen, wo sich unsere Zugvögel im Winterhalbjahr aufhalten. Mit einem innovativen und engagierten Team nimmt sie die nächsten hundert Jahre in Angriff. Wie schon in den vergangenen hundert Jahren darf sie dabei auf die treue und grossartige Unterstützung von Gönnerinnen und Gönnern und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zählen. Sie sind es, die die Geschichte der Vogelwarte ermöglicht haben, und sie sind es, die darauf am meisten stolz sein dürfen. Denn die Schweizerische Vogelwarte Sempach ist und bleibt ein Gemeinschaftswerk zum Wohl der Vögel.