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News - Hintergrund

Der Gänsegeier in der Schweiz

April 2023

Immer mehr Gänsegeier übersommern in der Schweiz. Dabei werfen gewisse Verhaltensweisen Fragen auf und erregen in der Öffentlichkeit und in Landwirtschaftskreisen Aufmerksamkeit.

Die sachliche, neutrale Interpretation des Verhaltens ist sehr wichtig, denn schon einmal wurde durch Missinterpretation seines Verhaltens ein Greifvogel als grosse Gefahr betrachtet und wurde sogar in den Alpen ausgerottet – heute wissen wir, dass der Bartgeier absolut ungefährlich ist.

Kein Neuling in der Schweiz

Das Auftreten herumstreifender Gänsegeier in der Schweiz ist seit dem Mittelalter belegt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde er aber in weiten Teilen Europas ausgerottet. Insbesondere der Einsatz von Giftködern gegen Grossraubtiere war fatal für den Gänsegeier. 1981 startete ein Wiederansiedlungsprojekt im französischen Zentralmassiv. Mittlerweile brüten in ganz Frankreich wieder über 3000 Paare. Dies führte auch zu vermehrten Beobachtungen in der Schweiz, insbesondere ab 2012. Mittlerweile dürften sich jeden Sommer schätzungsweise mehrere Hundert Gänsegeier in der Schweiz aufhalten.

Hierzulande ist der Gänsegeier ein Nahrungsgast, aber kein Brutvogel. Sein Auftreten beschränkt sich hauptsächlich auf die Zeit von April bis Oktober. Es handelt sich dabei um Vögel, die nicht brüten und über sehr weite Distanzen herumstreifen. Dies sind hauptsächlich noch nicht geschlechtsreife Individuen. In weitaus geringeren Zahlen erscheinen auch adulte Gänsegeier bei uns, die nicht brüten oder die ihre Brut früh verloren haben. Es ist unwahrscheinlich, dass der Gänsegeier in naher Zukunft zum Schweizer Brutvogel wird, denn in den südeurop.ischen Brutgebieten startet die Eiablage bereits zwischen Dezember und März. Bruten wären also erst dann zu erwarten, wenn sich geschlechtsreife Gänsegeier das ganze Jahr in der Schweiz aufhalten.

Perfekter Kadaververwerter

Der Gänsegeier ist ein Aasfresser, der sich vor allem von Kadavern grosser Huftiere wie Steinbock, Gämse, Rothirsch, Reh, aber auch Nutztieren wie Kuh und Schaf, ernährt. Er zeigt viele Anpassungen, die ihn zu einem perfekten Kadaververwerter machen. Ort und Zeitpunkt, an dem Kadaver verfügbar werden, sind nicht voraussehbar. Der Gänsegeier muss daher auch grössere Distanzen auf der Suche nach Nahrung zurücklegen können. Mit seinen gewaltigen Schwingen ist er ein sehr guter Thermikflieger. Segelnd braucht er kaum Energie und kann weite Strecken überwinden. Nachgewiesen sind Distanzen von mehreren hundert Kilometern an einem Tag. Wenn der Gänsegeier dann einmal einen Kadaver gefunden hat, frisst er so viel wie möglich, weil ungewiss ist, wann er das nächste Mal an einen Kadaver gelangt. Da die Nahrungsaufnahme nicht immer gleich regelmässig möglich ist, hat der Gänsegeier grosse Fettdepots und kann mehrere Tage bis zu mehreren Wochen ohne Nahrung auskommen. Seine sauren Magensäfte und das hoch spezialisierte Mikrobiom des Darmes sorgen dafür, dass der Gänsegeier selbst verwesendes Fleisch fressen kann, ohne unter Krankheitserregern zu leiden.

Der Gänsegeier und der Wolf

Weil der Gänsegeier vor allem Kadaver frisst, scheint es naheliegend, sein Auftreten in Verbindung zu bringen mit dem Auftreten des Wolfs. Der Gänsegeier findet in der Schweiz durch die hohen Wildbestände und natürliche Abgänge, auch bei Nutztieren, auch ohne Wolf genügend Nahrung. Insgesamt gibt es in der Schweiz keinen Hinweis darauf, dass die Wolfspräsenz grossräumig einen Einfluss auf die Aufenthaltsorte des Gänsegeiers hat. Natürlich profitiert der Gänsegeier von Wolfsrissen und kann sehr schnell bei einem Riss auftauchen. Die rasche Nutzung eines Nutztierkadavers durch Gänsegeier kann den Nachweis eines Wolfsrisses erschweren und zu Konflikten führen. Dieser Konflikt kann nicht den Aasfressern angelastet werden. Die Lösung dieses Konflikts liegt in der Kompetenz der kantonalen und nationalen Behörden.

Kein reiner Aasfresser, aber auch kein echter Jäger

Spätestens seit Ende August 2022 ist der Gänsegeier zum heiss diskutierten Thema geworden: Gänsegeier haben bei Lumnezia GR an einem noch lebenden, neugeborenen Kalb gefressen. Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass das Kalb eingeschläfert werden musste. Dass Gänsegeier auch an noch lebenden Tieren fressen können, ist spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Die wenigen ausreichend dokumentierten Fälle zeigen aber, dass die betroffenen Tiere schwer verletzt, alt, krank, schwach oder frisch geboren waren. Wenn sich solche Tiere nicht wehren oder nicht verteidigt werden, kann es vorkommen, dass Gänsegeier bereits zu fressen beginnen, bevor das Tier tot ist. Verteidigte oder gesunde Tiere, die gut gehen können, gehören nicht in das Nahrungsspektrum des Gänsegeiers. Insbesondere auch deshalb, weil er als eigentlicher Aasfresser mit seinen schwachen Krallen kaum Tiere verletzen oder töten kann.

Zwar gab es vor allem in den letzten Jahren aus Frankreich und Spanien immer wieder Meldungen von vermeintlichen Attacken von Gänsegeiern auf Nutztiere. Fundierte Abklärungen haben jedoch gezeigt, dass in den allermeisten Fällen niemand vor Ort war, der eine vermeintliche Attacke beobachtet hat. Je nach Studie betrafen rund 70 % der gemeldeten Fälle nachweislich Tiere, die beim Eintreffen der Gänsegeier bereits tot waren. In der französischen Region «Grands Causses » gab es von 2007–2014 182 Meldungen von vermeintlichen Gänsegeierangriffen auf Nutztiere, die veterinärmedizinisch untersucht wurden. In nur 15 Fällen konnte bestätigt werden, dass Gänsegeier an noch lebenden Nutztieren gefressen hatten, wobei alle betroffenen Tiere unfähig gewesen waren, zu gehen. Die Geier wurden deshalb laut den Veterinärberichten nie als hauptsächliche Todesursache angesehen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum starben in derselben Region jährlich insgesamt rund 40 000 Nutztiere an unterschiedlichen Ursachen.

Der Fall bei Lumnezia muss in einem ähnlichen Licht betrachtet werden: Obwohl sich seit rund 10 Jahren alljährlich schätzungsweise mehrere Hundert Gänsegeier den ganzen Sommer in der Schweiz aufhalten, ist der Vogelwarte erst dieser eine bestätigte Fall bekannt. Bedauerlicherweise ist laut kantonalem Amt für Jagd und Fischerei unklar, wie der Gesundheitszustand des Kalbs war. Zudem passt der Fall ins Bild der Untersuchungen in Spanien und Frankreich: Viele der vermeintlichen Angriffe wurden entweder bei Kälbern oder gebärenden Kühen registriert. Geburtskomplikationen, Totgeburten oder die Nachgeburt locken Gänsegeier an und können zu Missinterpretationen seines Verhaltens oder tatsächlichen Vorfällen führen.

Missinterpretationen und «Fake News»

Die Angst vor dem Gänsegeier beruht zu grossen Teilen auf einer Missinterpretation seines Verhaltens und wird verstärkt durch tendenziöse Berichterstattung in den Medien. Dazu kommen Videos auf Social Media, die vermeintliche Angriffe auf Nutztiere zeigen. Einige Bilder sind in der Tat unschön und sehen teilweise dramatisch aus, zeigen aber kaum je den Anfang oder das Ende der Interaktion zwischen Geiern und Nutztieren. Es ist also meist unklar, was genau vorgefallen ist und in welchem Zustand das Tier war, als die Geier auftauchten. Solche Videos sind also kein Beweis für die Gefährlichkeit von Gänsegeiern für gesunde Nutztiere.

Auch wenn es kaum Hinweise darauf gibt, dass Gänsegeier gesunde Nutztiere angreifen, sollte jede dieser Meldungen genau geprüft werden. Wurde der ganze Angriff von Anfang bis Ende beobachtet oder sogar dokumentiert? In welchem Zustand befand sich das betroffene Tier beim Eintreffen der Geier? Gibt es Hinweise auf Krankheiten oder Verletzungen? Nur wenn diese Fragen beantwortet werden können, können der Gänsegeier, sein Verhalten und allfällige Massnahmen nüchtern und ohne Polemik diskutiert werden.

Im Beitrag erwähnte Vogelarten

Vogelarten
Gänsegeier
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