FILTERN

Filtern nach
©
© Marcel Burkhardt
News - Hintergrund

Die flexible Reise der Rotmilane

Mai 2025

Unsere Mitarbeiterin Ying Chi (Ginny) Chan ist für den Elton-Preis 2024 nominiert, der Nachwuchsforschende für die beste wissenschaftliche Arbeit im Journal of Animal Ecology auszeichnet. Hier stellt sie uns ihre Forschungsarbeit an der Schweizerischen Vogelwarte vor.

Worum geht es in der nominierten Arbeit und welche Fragen möchtest du beantworten?
Die Hauptfrage ist: Wie entstehen Muster im Zugverhalten? Ein Teil der Antwort liegt in der Untersuchung der sogenannten „Ontogenese“ des Zugs, also seiner Entwicklung im Laufe des Lebens eines Vogels. Dies wurde bereits bei einigen Vogelarten untersucht, aber die Population des Rotmilans (Milvus milvus) in der Schweiz ist etwas Besonderes: Im Gegensatz zu einem typischen Zugvogel handelt es sich um eine Population von sogenannten Teilziehern, in der die meisten Jungvögel ziehen, viele von ihnen im späteren Leben aber sesshaft werden.

Migration ist jedoch nicht nur eine Frage von Ja oder Nein: Wie sieht es mit der Routenwahl und dem Zeitpunkt des Aufbruchs aus? Und wie verändern sich diese mit zunehmendem Alter?
Die Forschungsgruppe «Ökologische Forschung» der Schweizerischen Vogelwarte hat GPS-Daten von über 330 Individuen gesammelt, davon 292 seit dem Nestlingsalter. Diese umfangreichen Daten ermöglichen es uns, Antworten auf diese Frage zu finden. Konkret haben wir untersucht, wie sich Ziel, Route und Zeitpunkt des Zugs im Alter von ein bis fünf Jahren verändern, also vom Jungvogel bis zum fortpflanzungsfähigen Erwachsenen. Wir konnten eine starke Verschiebung des Zugzeitpunkts mit zunehmendem Alter feststellen: Die Vögel verbrachten immer weniger Zeit in den Überwinterungsgebieten auf der Iberischen Halbinsel und in Frankreich. Ausserdem stellten wir einen Einfluss des Fortpflanzungsstatus fest: Vögel zogen im Jahr vor der Revierbildung später in Richtung Süden und verzögerten den Wegzug in den Jahren nach der Revierbildung noch weiter.

Hat dich bei deiner Arbeit etwas überrascht?
Eine zentrale Frage in der Zugökologie ist, wie flexibel Arten sind. Dies bestimmt ihre Fähigkeit, sich an schnelle Umweltveränderungen anzupassen. Oft wird angenommen, dass „typische“ Zugvögel – meist Langstreckenzieher – viel weniger flexibel sind als andere Arten – meist Kurzstrecken- oder Teilzieher – und daher anfälliger für schnelle Umweltveränderungen. Da ich in meiner Doktorarbeit Watvögel untersucht habe, die oft als klassische Beispiele für Langstreckenzieher gelten, war ich fasziniert vom Teilzugsystem des Rotmilans. Ich ging davon aus, dass Rotmilane erhebliche Unterschiede in ihren Zugrouten und -zeiten aufweisen würden. Dies schien jedoch nicht der Fall zu sein: Wir stellten zwar eine allmähliche Anpassung des Zugzeitpunkts mit zunehmendem Alter fest, aber die Individuen kehrten immer wieder in die gleichen Winterquartiere zurück. Damit trägt unsere Studie zur Differenzierung des Begriffs „Flexibilität“ bei. Ich freue mich auf weitere Studien über Arten mit unterschiedlichen ökologischen Anforderungen, um ein tieferes Verständnis über die Zugökologie zu erlangen.

Was wird der nächste Schritt in diesem Bereich sein?
Der letzte Satz in unserer Arbeit gibt darauf eine Antwort: „Für ein besseres Verständnis der Mechanismen, die eine Anpassung an rasche globale Umweltveränderungen ermöglichen, empfehlen wir weitere Studien mit besenderten Tieren von wandernden Arten und Populationen mit unterschiedlichen ökologischen Anforderungen und Lebensstrategien ab ihrer ersten Wanderung.“ Die Untersuchung von besenderten Vögeln ab ihrem ersten Lebensjahr ist eine Herausforderung, aber mit zunehmender Bedeutung des Themas widmen sich ihm immer mehr Forschende. Ausserdem könnten Fortschritte in der Ortungstechnologie dies in Zukunft erschwinglicher und praktikabler machen.
Darüber hinaus denke ich, dass unser derzeitiges Wissen über den Vogelzug stark durch frühere Arbeiten geprägt und auf die nördliche Hemisphäre ausgerichtet ist und entsprechend eine geografische Verzerrung aufweist. Für mich persönlich besteht der nächste Schritt darin, Arten aus wenig erforschten Regionen zu untersuchen, was unerwartete Zugmuster aufdecken und neue Perspektiven auf den Vogelzug eröffnen könnte.

Über Ginny Chan
Wie bist du zur Ökologie als Forschungsthema gekommen? Was ist deine derzeitige Arbeitsstelle?
Ich habe meinen Bachelor in Ökologie an der Universität Hongkong gemacht und während meines Studiums ein Interesse für Vögel entwickelt. Das hat mich schliesslich für einen Master nach Europa geführt. Meine Doktorarbeit an der Universität Groningen befasste sich mit dem Zugverhalten gefährdeter Watvögel in Ostasien. In meiner derzeitigen Postdoc-Stelle an der Schweizerischen Vogelwarte untersuche ich den Zug und das Ausbreitungsverhalten von Greifvögeln. Mein Forschungsschwerpunkt liegt in der Ökologie von Tierbewegungen und deren Anwendung im Naturschutz und im Wildtiermanagement.

Welchen Rat würdest du jemandem in deinem Fachgebiet geben?
Mein Rat wäre, bewusst zu versuchen, aus seiner Filterblase herauszukommen, sei es bei Forschungsthemen oder Menschen. Der Austausch mit Personen mit unterschiedlichem Hintergrund war für mich von unschätzbarem Wert – er hat meinen Horizont erweitert, neue Ideen hervorgebracht und unsere Arbeit für die Gesellschaft zugänglicher und relevanter gemacht.

Im Beitrag erwähnte Vogelarten

Vogelarten
Rotmilan
Der Rotmilan ist nach Bartgeier und Steinadler der drittgrösste einheimische Greifvogel. Die Vögel können stundenlang auf ihren schmalen, langen Flügeln kreisen und steuern dabei unablässig mit dem langen Gabelschwanz. Zur Balzzeit vollführen die Paare richtige Kunstflüge und äussern häufig ein w...
Mehr erfahren