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© Patrick Scherler

Immer häufiger sind Rotmilane auch im Winter in der Schweiz zu sehen.

News - Hintergrund

Vom Ziehen und Bleiben

April 2025

Der Rotmilan hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten in immer grösseren Zahlen bei uns überwintert. Wie sich das Zugverhalten auf das Überleben und den Fortpflanzungserfolg einzelner Individuen auswirkt, ist Gegenstand eines grossen Forschungsprojektes der Schweizerischen Vogelwarte.

Beim Rotmilan gibt es grosse Unterschiede im Zugverhalten verschiedener Populationen: Während die Rotmilane in Grossbritannien, Italien und Spanien fast ausschliesslich Standvögel sind, ziehen die Populationen aus Zentraleuropa im Winter meist in wärmere Gefilde im Mittelmeerraum.

Dieses generelle Muster verschiebt sich aber gerade. In den letzten zwanzig Jahren hat die Anzahl der in der Schweiz überwinternden Rotmilane sehr stark zugenommen, und viele der heimischen Rotmilane bleiben heute ganzjährig bei uns. Da die Klimaerwärmung zu immer milderen Wintern führt, ist es für den Rotmilan offensichtlich kein Problem mehr, hier auch im Winter genügend Nahrung zu finden. Doch welche Individuen entscheiden sich zu bleiben, und welche Auswirkungen hat das auf ihr Überleben und ihren Fortpflanzungserfolg?

Die Schweizerische Vogelwarte verfolgt seit 2015 über 500 Rotmilane mit GPS-Sendern, die auf dem Rücken der Vögel montiert sind und mit Hilfe einer kleinen Solarzelle jahrelang Daten über ihren Aufenthaltsort liefern. Dadurch ist es uns möglich, die Zugbewegungen der Vögel langfristig zu verfolgen, und wichtige Erkenntnisse zu gewinnen, welche Individuen wann wohin ziehen – und welche gar nicht mehr ziehen.

Wer zieht wohin – und wer bleibt?

In ihrem ersten Winter ziehen fast alle Jungvögel nach Südfrankreich oder auf die Iberische Halbinsel, aber mit zunehmendem Alter werden viele Rotmilane zu Standvögeln, die im Winter nicht mehr wegziehen. Dieser Übergang scheint bei Weibchen grössenabhängig zu sein: Grössere Weibchen werden früher zu Standvögeln als kleinere. Bei den adulten Rotmilanen in der Schweiz zieht nur noch etwa ein Drittel im Winter nach Südeuropa, der Rest überwintert in der Schweiz.

Diese Veränderung im Zugverhalten ist sehr grundsätzlich: Sobald sich ein Individuum entschlossen hat, nicht mehr zu ziehen, bleibt es meist für den Rest seines Lebens Standvogel. Nur 15 Prozent der Vögel, die einmal in der Schweiz überwintert haben, ziehen in einem späteren Jahr dann doch noch mal im Winter weg.

Die Vögel, die mit zunehmendem Alter trotzdem noch nach Südeuropa ziehen, werden aber jedes Jahr besser. Sie bleiben länger im Brutgebiet, ziehen effizienter und erreichen das Überwinterungsgebiet in kürzerer Zeit. Ausserdem überwintern sie jedes Jahr im selben Gebiet und kehren früher wieder in ihr Brutrevier zurück.

Welche Rolle spielen Witterung und Nahrungsverfügbarkeit?

Mit den immer höheren Temperaturen in den letzten Jahrzehnten hat auch die Zahl der in der Schweiz überwinternden Rotmilane zugenommen. Zwar verzögert sich der Abflugzeitpunkt der Rotmilane in einem warmen Herbst etwas, und die Zugwahrscheinlichkeit ist insgesamt höher in einem kalten, schneereichen Winter. Vermutlich ist es für Rotmilane aber entscheidender, dass sie genügend Nahrung finden können.

Um dies zu untersuchen, haben wir ein Experiment durchgeführt, bei dem einige der besenderten Rotmilane im Herbst und im Winter gefüttert wurden, um eine hohe Nahrungsverfügbarkeit zu garantieren. Im Vergleich zu Vögeln, die nicht experimentell gefüttert wurden, blieb ein über doppelt so grosser Anteil der gefütterten Vögel im Winter in der Schweiz. Die weit verbreitete Fütterung des Rotmilans kann also das Zugverhalten dieser Art in der Schweiz beeinflussen.

Welche Auswirkung hat der Zug auf Überleben und Fortpflanzung?

Ob das Zugverhalten als stabile Strategie in einer Population bestehen bleibt, hängt davon ab, wie sich der Zug auf den Fortpflanzungserfolg und die Überlebensrate auswirkt. Bei Jungvögeln ist die Überlebensrate der in der Schweiz überwinternden Rotmilane deutlich geringer. Vermutlich deshalb zieht immer noch ein grosser Anteil an Jungvögeln weg. Mit zunehmendem Alter gibt es aber kaum noch Unterschiede zwischen Zug- und Standvögeln, ausser bei alten Männchen: Bei ihnen scheint sich der Zug in ein entferntes Winterquartier negativ auf die Überlebensrate auszuwirken. Das liegt eventuell daran, dass ziehende Männchen jedes Frühjahr ihr Revier neu «erkämpfen» müssen.

Standvögel, die das ganze Jahr in ihrem Revier bleiben, scheinen deshalb im Vorteil zu sein, weil sie ihr Revier nicht zurückerobern müssen. Das könnte auch den höheren Bruterfolg von Standvögeln erklären. Nur in sehr schneereichen Wintern oder in höheren Lagen liegen die Bruterfolge von ziehenden Rotmilanen auf einem ähnlich hohen Niveau wie bei Standvögeln.

Kann die Verhaltensänderung den Populationsanstieg erklären?

Die Anzahl der Rotmilane in der Schweiz hat nicht nur im Winter markant zugenommen, auch die gesamte Brutpopulation ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angewachsen. Wenn mehr Rotmilane in der Schweiz bleiben und diese Vögel höhere Überlebens- und Fortpflanzungsraten haben, kann dann das veränderte Zugmuster als Erklärung für das Populationswachstum dienen? Bislang ist unklar, ob die Grösse der gefundenen Veränderungen tatsächlich ausreicht, um das Wachstum der Population zu erklären, oder ob es eventuell noch weitere relevante Faktoren gibt.

Mit Hilfe der Telemetriedaten können wir inzwischen den Bruterfolg der Rotmilane ermitteln, und wir können anhand der Bewegungsmuster auch quantifizieren, wie viel Zeit sie an menschlichen Fütterungsstellen verbringen. Mit diesem Wissen werden wir in den nächsten Jahren versuchen herauszufinden, ob mit einer Veränderung im Zugverhalten und in den Überlebens- und Reproduktionsraten tatsächlich der Anstieg der Schweizer Rotmilan-Population erklärt werden kann.

Im Beitrag erwähnte Vogelarten

Vogelarten
Rotmilan
Der Rotmilan ist nach Bartgeier und Steinadler der drittgrösste einheimische Greifvogel. Die Vögel können stundenlang auf ihren schmalen, langen Flügeln kreisen und steuern dabei unablässig mit dem langen Gabelschwanz. Zur Balzzeit vollführen die Paare richtige Kunstflüge und äussern häufig ein w...
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